Davos Festival: Coronatauglich und experimentierfreudig

Marco Amherd folgt in Davos mit seiner ersten Festivalintendanz den Linien seiner Vorgänger.

Das Colores Trio am Festivalbrunch am Schwarzsee in Davos Laret. Foto: Davos Festival/Yannick Andrea

Gerade sass Marco Amherd noch auf der Orgelbank und gestaltete in der Kirche St. Theodul beim Mittagskonzert Johann Sebastian Bachs Fuge in D-Dur BWV 532/2 mit virtuosem Pedaleinsatz und grosser Transparenz. Nun nimmt sich der neue Intendant des Davos-Festivals Zeit für ein ausführliches Gespräch. Sein Auftritt als Organist in einem Konzert zur Festivalhalbzeit war der einzige, bei dem Amherd auch musikalisch in Erscheinung trat.

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Intendant Marco Amherd spielte bachsche Werke in der Kirche St. Theodul. Foto: Davos Festival / Yannick Andrea

Dennoch ist der 32-jährige Walliser beim Festival omnipräsent, hält engen Kontakt zu den Künstlern, ist bei Proben sowie der wunderschönen Festivalwanderung nach Davos Wiesen in Wanderschuhen und Shorts dabei und sagt jedes Konzert persönlich an. Dass nach der Dirigentin Graziella Contratto, dem Klarinettisten Reto Bieri und dem Pianisten Oliver Schnyder, der nur die letztjährige Festivalausgabe betreute, nun mit Marco Amherd wiederum ein Künstlerintendant das Sagen hat, ist vom Stiftungsrat so gewollt. Das Besondere in Davos ist aber, dass der Intendant hier musikalisch kaum in Erscheinung treten soll. Gefragt ist seine Expertise bei der Auswahl der Musikerinnen und Musiker, sein Netzwerk, sein praktisches Know-how als Künstler. Was reizt den Organisten und Chordirigenten Marco Amherd am neuen Job? «Ich mache gerne Programme. Ich möchte einen roten Faden spinnen und den Konzerten einen Spannungsbogen geben. Auch finde ich es wichtig, Konventionen aufzubrechen und neue Konzertformen zu finden. Da ist beim Davos-Festival vieles möglich. Man kann hier experimentierfreudig sein, weil auch einmal etwas daneben gehen darf.»

«Von Sinnen»

Der neue Intendant war schon im Frühjahr zuversichtlich, dass das Festival coronakonform würde über die Bühne gehen können. Hier treten keine internationalen Stars mit Standardwerken auf, sondern jedes Programm ist exklusiv und vor Ort produziert. Dass die rund neunzig jungen Musikerinnen und Musiker aus vierzehn Ländern, fast alle unter dreissig, wohlbehalten in die 1500 Meter hoch liegende Stadt gekommen sind, ist dem Organisationstalent von Geschäftsführerin Anne-Kathrin Topp zu verdanken. Für viele ist es der erste Auftritt seit dem Ausbruch der Coronapandemie.

«Von Sinnen» heisst in diesem Jahr das schön mehrdeutige Festivalmotto, das in den einzelnen Konzerten lustvoll durchdekliniert wird. In der Kirche St. Johann in Davos Platz wird Bernd Frankes expressive Komposition On the Dignity of Man vom jungen, ausdrucksstarken Sibja-Saxofon-Quartett und dem exquisiten Davos-Festival-Kammerchor unter der Leitung von Andreas Felber plastisch vor Ohren geführt. Ihre experimentelle Seite zeigen die vier Hochbegabten bei der Uraufführung von from the noise ihres Baritonsaxofonisten Joan Jordi Oliver in der Kirche Davos Wiesen. Die live erzeugten Geräusche und Klänge werden digital bearbeitet und, in den Höhen ein wenig zu scharf, in den Kirchenraum geschickt. Das Schweizer Colores-Trio verzückt nicht nur die Teilnehmer des traditionellen Brunchs am Schwarzsee in Davos Laret, wenn Fabian Ziegler, Matthias Kessler und Luca Staffelbach auf Marimba und Vibrafon Astor Piazzollas Libertango grooven lassen. Bei den eigenen, komplexen Arrangements von Ravels Le tombeau de Couperin und Saint-Saëns’ Danse macabre zeigen die drei jungen Schlagzeuger in der Kirche St. Johann bei aller virtuoser Fertigkeit vor allem grosse Musikalität. Das Simply Quartet lässt im Hotel Schweizerhof beim «Liebessinn»-Abend Robert Schumanns A-Dur Streichquartett op. 41 Nr. 3 auf höchstem Niveau schmachten, während Schauspieler Elias Reichert in Roberts Briefen an Clara den fordernden Gefühlen nachspürt: «Es muss werden. Vergessen Sie das Ja nicht.»

Geschichten an besonderen Orten

Marco Amherd möchte mit seinen Programmen «Geschichten erzählen». Dabei ist für ihn auch die Verbindung zur Literatur wichtig. Die jungen Musikerinnen und Musiker, die Amherd alle persönlich ausgewählt hat, sind offen dafür. Auch Reto Bieri hatte schon in den einzelnen Konzerten mit dem Festivalmotto gespielt und besondere Programme komponiert. Der von Oliver Schnyder eingeführte Very-Young-Artists-Kurs wurde in diesem Jahr fortgeführt. Amherd muss in Davos nicht das Rad neu erfinden. «Ich sehe mich durchaus in Kontinuität zu meinen Vorgängern», sagt er. Eigene Ideen hat er trotzdem. «Ich möchte die Vokalmusik noch stärker in den Vordergrund stellen. Ausserdem haben wir mit Cardinal Complex eine Alte-Musik-Formation beim Festival – auch dieser Bereich ist mir sehr wichtig.» Dass er mit einer elektroakustischen Anlage der Firma Müller BBM, die er selbst am Tablet steuert, die Akustik im Hotel Schweizerhof um Längen verbessert hat, berichtet er erst auf Nachfrage.

Das Davos-Festival ist auch ein Musikfestival der besonderen Orte. Mit der Bergbahn geht es hoch auf 1861 Meter zum Hotel Schatzalp. Vor der Jugendstilfassade spielt am frühen Abend ein erst beim Festival zusammengestelltes Bläserquintett beim dreiteiligen Konzertabend «Übersinnlich» mit «kulinarischen Intermezzi» Samuel Barbers Summer Music zu Quiche und Prosecco, ehe sich das Publikum ins feudale Innere begibt, um, gestärkt von Bündner Gerstensuppe, in Marin Marais Le tableau de l’operation de la taille musikalisch einer Gallenblasen-Entfernung beizuwohnen. Marco Amherd liest die entscheidenden OP-Schritte auf Französisch vor (Cembalo: Matías Lanz). Beim Einsatz des Skalpells hört man den Schmerz in höchsten Tönen der Gambe (Alex Jellici). Allmählich geht die Sonne unter und es wird dunkler im Saal. Die Tischlampen verbreiten Wohnzimmeratmosphäre. Anton Spronk modelliert auf dem Cello Al fresco von Composer in residence Gerald Resch. Und Amanda Taurina (Oboe), Marie Boichard (Fagott) und Frederic Bager (Klavier) beglücken mit einer flinken, vitalen Version von Francis Poulencs Trio. Das grandiose musikalische Finale wird regional abgerundet mit einem Röteli, dem feinen Bündner Kirschlikör. Danach bringt die Schatzalpbahn zu später Stunde die Besucher musikalisch erfüllt und kulinarisch befriedigt wieder ins.

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