Allmähliches Verholzen
Das neue Musiktheater von Andreas Neeser und Alfred Zimmerlin erzählt vom Verschwinden.

Ein seltsamer Fall: Herr Fravi leidet an einer ungewöhnlichen Krankheit, die der Arzt als Burn-out deklariert. In Wahrheit verholzt Fravi allmählich: Er wird gleichsam zum Baum, zieht sich deshalb immer mehr zurück und verschwindet in sein Inneres, seinen Kopf, seine Gedankenwelt. Seine Frau und sein Sohn können nur ratlos, wenn auch nicht teilnahmslos zuschauen. Am Ende löst sich das Stück wie sein Protagonist selber auf.
Das ist der Plot des neuen Musiktheaters, das am 29. März in der Alten Aarauer Reithalle uraufgeführt wurde. Ersonnen hat ihn der Aargauer Dichter Andreas Neeser. Sechs Prosagedichte aus seinem Lyrikband Nachts wird mir wetter sowie weitere Gedichte in Mundart liegen dem Stück zugrunde. Weil es im Auftrag des Bündner Festivals tuns contemporans entstand, kam als dritte Sprache das Sursilvaner Rätoromanisch hinzu. In Chur, wo das Festival seit einiger Zeit im Zweijahresrhythmus prägnante Akzente punkto Neue Musik setzt, folgen zwei weitere Aufführungen. Beteiligt waren denn auch – hinter einem durchsichtigen Gazevorhang sitzend (Bühnenbild: Peter Wendl) – die Kammerphilharmonie Graubünden und das Ensemble ö! unter der Leitung von Philippe Bach. Der ebenfalls aus dem Aarauer Kanti-Umkreis stammende Komponist Alfred Zimmerlin, der in diesen Tagen seinen siebzigsten Geburtstag feiert, schrieb die Musik dazu.
Der Untertitel spricht von einem «audiovisuellen Bühnenstück», was auf ein techniklastiges, multimediales Event hinzudeuten scheint, aber gerade das ist es nicht. Im Gegenteil: Alles Automatisierte scheint absent. Das Stück ist gewissermassen «altmodisch» in seiner Absage ans Spektakel, es erzählt ruhig und ohne Umwege, ohne Schnickschnack. Ivo Bärtsch hat es behutsam in Szene gesetzt. Selten erlebt man, dass sich die unterschiedlichen Ebenen so selbstverständlich, so unabhängig und doch aufeinander bezogen durch die Zeit bewegen. Sie sind in den drei Personen verkörpert, die nur in einigen Momenten, Knotenpunkten gleichsam, miteinander in Berührung kommen.

Da ist zunächst die Geschichte von Fravi, fast ohne Aktion gelassen vom Tisch aus erzählt von Jaap Achterberg. Seine Frau Seraina bleibt ernst und stumm, doch in ihrem schlicht und unprätentiös anmutenden, zuweilen aber auch geometrisch abgezirkelten Tanz drückt Maja Zimmerlin eine ganze Palette von Gefühlen zwischen Zuneigung und Sorge, Verspannung und Loslassen aus. Der zwölfjährige Luca hingegen, dargestellt von der Mezzosopranistin Mirjam Fässler, sucht erst auf spielerische Weise den Kontakt zum Vater, fühlt sich zurückgewiesen, entwickelt dann aber Mitgefühl mit ihm. Er reift heran und beginnt zu sinnieren und zu verstehen. Sein melancholisches Duo mit dem Flügelhornisten Christoph Luchsinger ist einer der ergreifendsten Momente in dieser ohnehin äusserst einnehmenden Produktion.
Bildhafte Klänge, denen man gerne folgt
Sprechen, Tanzen und Singen geschehen also neben- und miteinander. Was ein blosses gestalterisches Konzept bleiben könnte, gewinnt jedoch zarte Lebendigkeit. Es funktioniert, zumal die orchestrale «Begleitung» ebenso selbständig eine weite Linie durch die siebzig Minuten zieht und auf ihre Weise Zusammenhang herstellt. Es ist erstaunlich, wie sich Zimmerlins Musik einmal mehr gewandelt hat, noch biegsamer geworden ist, warm im Klang und ausdrucksstark. Nur in wenigen Augenblicken bedarf es hier heftiger Akzente. Es ist schon alles gesagt. In diese Linie hat Zimmerlin auch einige Bündner Volkstanzmelodien eingewoben. Sie scheinen fein auf, verschmelzen mit der Umgebung, färben diese aber auch ein, lassen etwas nachklingen von den Emotionen der Bühne. Es ist eine sehr empathische Musik, die das Ohr leitet. Und das war ja schon häufig eines der entscheidenden Charakteristika bei diesem Komponisten: Man vertraut diesen Klängen, ihrer Offenheit und Aufrichtigkeit, ihrer unambitionierten Bildhaftigkeit und folgt ihrem Weg – auch wenn sie ins Verschwinden führen.
Bericht von der Uraufführung am 29. März in Aarau. Zwei weitere Aufführungen am 3. und 6. April im Theater Chur im Rahmen des Festivals tuns contemporans.
