Hellwache Produzenten, mutlose Fernsehleute
Wer war der erste Popstar der Musikgeschichte? Warum unterfordern die Musikprogramme im öffentlich-rechtlichen Fernsehen ihre Zuschauer? Was unternimmt der Met-Intendant gegen die Finanzierungskrise? Auskünfte zu diesen und vielen anderen Fragen erhielt man Mitte Februar in Berlin bei der internationalen Musikfilm-Messe Avant Première.

Musik in den Medien wird heute zunehmend über Streaming gehört. Belief sich der Umsatz 2006 noch auf 100 Millionen Dollar, so betrug er 2023 bereits 19,3 Milliarden, Tendenz steigend. Die physischen Verkäufe gingen im gleichen Zeitraum von 15,1 Milliarden auf 5,1 Milliarden zurück. Das sind die Zahlen des Weltverbands der Phonoindustrie (IFPI). Sie betreffen die nur gehörte Musik. Der audiovisuelle Sektor ist demgegenüber noch relativ klein. Das liegt weniger an den Marktmechnismen als an der Wahrnehmungssituation: Musik kann man nebenher hören, vielfach wird sie einem als Klangtapete aufgedrängt. Demgegenüber zwingt der Film zum Hinschauen.
Klassikfilme von Bruckner bis Stockfisch
Seit die Übertragungstechnik im Internet den Durchsatz grosser Datenmengen und damit eine ungeahnte Bild- und Tonqualität ermöglicht hat, findet auch der Musikfilm wachsende Verbreitung. Der Konzertsaal oder die Oper in HD auf dem heimischen Bildschirm, eine verlockende Möglichkeit. In dieser aufstrebenden medienästhetischen Gattung sind innovative Ideen und Entdeckungen noch an der Tagesordnung. Das betrifft vor allem den Klassikfilm; im U-Bereich sind die Übertragungen von Popkonzerten mit den immergleichen armschwenkenden Fans schon längst zur erstarrten Routine geworden.
Welche Überraschungen der Klassikfilm nach wie vor bietet, konnte man jetzt wieder bei der Musikfilm-Messe Avant Première in Berlin beobachten. Hier treffen sich jeden Februar Autoren und Produzenten, Betreiber von Internetsendern, Vertriebsleute und Rechtehändler aus der ganzen Welt, um vier Tage lang die Neuproduktionen zu begutachten, Informationen über die aktuellen Entwicklungen in der Branche auszutauschen und vor allem: mit den Neuheiten zu handeln.
Dazu gehört etwa Bruckners Neunte mit Herbert Blomstedt, eine Preziose von Musikfilm. Oder ein Dokumentarfilm über die Schwierigkeiten des Karrierebeginns mit der jungen Cellistin Anastasia Kobekina. Oder die international koproduzierte, achtteilige Dokuserie mit Kurzporträts von Komponistinnen von Hildegard von Bingen über Elisabeth Jacquet de la Guerre bis Ethel Smyth. Und dann das verrückte Projekt The Stockfish Opera: Es zeichnet den Weg nach, den der Stockfisch dank einem Schiffbruch venezianischer Seefahrer 1432 auf den Lofoten nach Venedig fand, wo er heute als «Baccalà Mantecato» eine Delikatesse darstellt. Auch die gemeinsam einstudierte Stockfish Opera folgt diesem Weg: Man sieht die Menschen aus dem hohen Norden, wie sie vor dem erstaunten Publikum in Venedig ihr Stück aufführen.
Künstlerisch Interessantes unter Druck
Auf insgesamt 61 Showreels von 12 bis 15 Minuten Dauer wurden rund 500 Neuproduktionen in kurzen Ausschnitten vorgestellt. Das waren zwar bloss Häppchen. Aber solche Momentaufnahmen geben einen Einblick in die ästhetische Ausrichtung der Produzenten und in die aktuellen Trends. Dabei stellt sich unweigerlich die Frage nach dem Verhältnis von Inhalt und kommerziellem Erfolg.
Noch haben künstlerisch interessante Neuheiten, auch Gewagtes, auf dem internationalen Markt eine Chance, wenn auch nicht mehr so häufig wie früher. Doch die Zukunftsaussichten sind eher düster. Die grösste Gefahr droht heute von den wirtschaftlich-politischen Unwägbarkeiten des Ukrainekriegs. Sie werden auch im Kulturbereich absehbar tiefe Spuren hinterlassen. Es liegt aber auch an den öffentlich-rechtlichen Anstalten, die schon seit einigen Jahren aus Angst, sie könnten elitär wirken und deshalb unter Beschuss geraten, solche Beiträge nicht mehr einkaufen, geschweige denn selbst herstellen. Mit ihnen als Koproduzenten gehen substanzielle Finanzmittel verloren.
Da bildet auch Arte keine Lösung, denn in der Regel kauft der deutsch-französische Sender nur ein, was in den Anstalten der beiden Länder produziert wird. Diese ziehen sich heute zunehmend auf Mainstreamprodukte zurück: Le Concert de Paris vor dem Eifelturm mit einem Publikum, das in die Zehntausende geht; Klassik am Odeonsplatz, ein anderer Schönwetter-Event, diesmal vom Bayerischen Rundfunk, ferner dasselbe aus Wien oder Berlin. Und dann natürlich das Wiener Neujahrskonzert, das bis nach Fernost ein sicherer Quotenrenner ist. Der Sieger für 2025 steht schon fest: der vor 200 Jahren geborene Johann Strauss, wenigstens kein Unsympathling. In Berlin ist er nun zum ersten Popstar der Musikgeschichte ernannt worden.
Auf diese problematische Mainstreamästhetik kam Reiner Moritz bei der Präsentation seines Showreels zu sprechen. Der international hoch dekorierte Produzent und Autor unzähliger Musikfilme seit den 1970er-Jahren, Inhaber einer Vertriebsfirma mit dem hübschen Namen Poorhouse International und noch mit 87 Jahren eine treibende Kraft hinter den Kulissen der Avant Première, sprach dabei die Kollegen von den öffentlich-rechtlichen Anstalten direkt an: «Bitte zeigt ein bisschen mehr Mut und seid ein wenig neugieriger! Es gibt so viele interessante Dinge, die das Publikum kennen sollte und die ihr ihm zeigen solltet.» Er berief sich dabei auf John Reith, den Gründungsdirektor der BBC London, der 1922 die Aufgabe des öffentlichen Rundfunks mit drei Stichworten umschrieb: Information, Bildung und Unterhaltung.
Schweizer Beiträge …
Aus der Schweiz war bisher immer das Tessiner Fernsehen dabei. Sein Kennzeichen sind Filme, die nicht mit dem Mainstream schwimmen: Etwa ein witziger Animationsfilm zu Beethovens 250. Geburtstag vor fünf Jahren, eine Dokumentation mit Liedern der im 19. Jahrhundert nach Lugano geflüchteten italienischen Anarchisten oder der grossartige Künstlerfilm Die Alchemie des Klaviers von Jan Schmidt-Garre. RSI fehlte in diesem Jahr, was hoffentlich kein Zeichen für eine Drosselung der Produktion ist. Doch es gab trotzdem etwas aus der Schweiz zu sehen: ein informatives, schön gemachtes Filmporträt von Frank Martin – produziert in den Niederlanden, wo der Genfer seinen Lebensabend verbrachte.

… und amerikanische Perspektiven
Die Probleme, mit denen die Musikinstitutionen im Klassikbereich heute zu kämpfen haben, sind international. Peter Gelb, Intendant der Metropolitan Opera in New York, der bei der Avant Première den Eröffnungsvortrag hielt, erklärte mir im Interview, wie es in Amerika aussieht, wo Subventionen praktisch Null und Sponsoring und Ticketverkauf die einzigen Geldquellen sind. Im Bermudadreieck Publikum–Repertoire–Kosten sucht Gelb nach einer Lösung, um das riesige Haus von 3800 Plätzen überhaupt noch am Laufen zu halten. Nach der Pandemie, sagt er, seien viele ältere Besucher weggeblieben. Davor deckten Ticketverkauf und Einnahmen aus den Kinoübertragungen ungefähr fünfzig Prozent der Kosten von rund 300 Millionen Dollar ab, und die andere Hälfte, also etwa 150 Millionen, kam von privaten Spendern. Weil sich nach der Pandemie die Einnahmen nicht richtig erholten, muss der Spendenanteil nun auf rund 200 Millionen steigen. «Wir sind», sagt Gelb, «weltweit die einzige kulturelle Institution, die derartig hohe Summen beibringen muss.»
Er konstatiert eine Lücke zwischen dem langsam wegsterbenden, traditionsorientierten Publikum und den jüngeren, hippen Besuchern und fährt deshalb zweigleisig: einerseits Tosca und Aida, andererseits zeitgenössische Werke. Diese finden aber nur Anklang, wenn prominente Sänger auf der Bühne stehen, die Musik die Hörer nicht überfordert und das Werk auf intelligenten Libretti und Inszenierungen basiert.
Den Spielplan richtet Gelb konsequent nach dem Publikum aus: «Was ich nie verstanden habe, ist die Haltung vieler Kritiker, die meinen, Oper sei für sie gemacht. Nein, die Oper soll für möglichst viele Menschen da sein. So dachten schon Puccini, Verdi und Mozart. Nur so kann sie als Kunstform weiterbestehen, und nur so können auch neue Werke überleben. Sie sollten nicht für einen schrumpfenden Kreis von Insidern geschrieben werden.» Sein Fazit: «Ich weiss nicht, wie die Zukunft der Met aussehen wird. Nur eines weiss ich: Wir müssen die Kunst weiterentwickeln und Risiken eingehen. Zurückweichen oder Stehenbleiben ist das sicherste Rezept zum Scheitern. Bei einer alternden Kunstform wie der Oper sind Kreativität und die Suche nach Neuem die einzige Garantie für ihr Weiterbestehen.»