Exil als Biografie und Schaffensbedingung
Das 11. Mizmorim-Kammermusikfestival fand vom 29. Januar bis am 2. Februar in Basel und Baselland statt. Das Thema «Exil» liess es erneut zu einem Zyklus aktiven Erinnerns werden.
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Durch die aktuellen Entwicklungen gewann das Thema «Exil» weit über Basel hinaus an Relevanz – auch durch die Biografien vorgestellter Musikpersönlichkeiten, die vor dem Holocaust flohen oder in Konzentrationslagern Deutschlands den Tod fanden. «Exil» wurde als «Feier der vielfältigen Begegnungen von jüdischer Musik und westlicher Kunstmusik» erfahrbar, zwangsläufig auch die äusserst empfindliche Membran zwischen Kritikkompetenz und Antisemitismus.
Ein gutes Beispiel für angestossene Wissens- und Bewusstseinsprozesse war das Late Night Concert des Pianisten Denis Linnik, einem Empfänger der Mizmorim-Nachwuchsförderung. Dieser spielte im Teufelhof die Burlesken op. 31 des nach seinem amerikanischen Exil lange vergessenen Ernst Toch, ein Intermezzo des sich zwischen Skrjabin und Strawinsky positionierenden Arthur Lourié und die frühe Sonate des mit vermutlich 106 Jahren im Jahr 2002 verstorbenen Leo Ornstein. Solche Entdeckungen machen die Energie und den Anspruch des Mizmorim-Festivals aus. Die Kompositionen offenbarten unterschiedliche kreative Qualität.
Neben etablierten Konzertorten wie der Druckereihalle Ackermannshof fanden Konzerte in der 2024 eröffneten Kunsthalle Baselland statt. Das Start-Konzert in Zürich ausgenommen, gastierte das Mizmorim-Festival damit erstmals ausserhalb Basels.
Kurator Erik Petry vom Zentrum für Jüdische Studien der Universität Basel, zu dessen Studierenden Mizmorim-Leiterin Michal Lewkowicz gehörte, liegt die Verbindung von Programmgestaltung vor allem zur Geschichte des 20. Jahrhunderts am Herzen. Barbara Häne, auch sie eine Alumna von Petry, resümierte nach ihrer Führung über «Exil in der Schweiz» im Jüdischen Museum Basel: «Antisemitismus endet nicht an der Grenze.» Insofern ist eine Würdigung und Verortung des Mizmorim-Festivals nur nach Kriterien der Interpretation und der Qualität von Kompositionen definitiv nicht möglich, schliesst immer globale Migrationen von Juden und regionale Faktoren ein. Zumindest gilt das für die vor dem Millennium entstandenen Kompositionen. Der vom Geiger Ilya Gringolts betreute Kompositionswettbewerb für das Festival 2026 mit dem Motto «Jerusalem» blickt in die Zukunft, ebenso die Konzerte speziell für junges Publikum.
Verhallter Eröffnungsabend
Wenig erfolgreich war man mit dem Performance-Komponisten Janiv Oron. Sein Hauptbeitrag wurde zur Festivaleröffnung im Musiksaal des Stadtcasinos als Uraufführung angekündigt. Das rüde Stück Histoire du soldat des lange staatenlosen Exil-Russen Igor Strawinsky erwies sich als sinnfällige Schnittstelle zum Mizmorim-Motto. Orons Sounddesigns blähten die kleine Besetzung allerdings mit Halleffekten auf und überwölkten das Finale des in Hinblick auf Antisemitismus nicht ganz unbescholtenen Kosmopoliten Strawinsky.
Der Schweizer Charles-Ferdinand Ramuz hatte das Märchen 1917 aus der russischen Afanassjew-Sammlung in sein Heimatland versetzt sowie für drei Sprechrollen, eine Tänzerin und Kammerensemble mit exponierter Violine (idealer Part für Ilya Gringolts) eingerichtet. 1975 wurde der Neubau des Theaters Basel mit der auch bei der Mizmorim-Aufführung verwendeten deutschen Übersetzung von Mani Matter eröffnet. Eine Regie nannte man nicht für die halbszenische Aufführung, bei der das Parkett für einen langen Laufsteg leer blieb und das Publikum vom Rang auf die enervierende Inselsituation der Prinzessin und des ihr angetrauten Soldaten hinabblickte. Die profunde Einführung von Heidy Zimmermann in der Paul-Sacher-Stiftung, die Strawinskys Nachlass erschliesst, hatte die Aufmerksamkeit für die aussergewöhnliche Bedeutung des Werks geschärft. Das finalisierte Partitur-Autograf schenkte Strawinsky übrigens zum Dank für seine Hilfe dem Winterthurer Mäzen Werner Reinhart.
Weitgreifende Moderne
Die Mizmorim-Idee verwirklichte sich in den folgenden Tagen weitaus überzeugender. Das zweite Streichquartett des bei Krakau geborenen und an der Wiener Musikhochschule als Professor wirkenden Roman Haubenstock-Ramati erwies sich interpretiert vom Gringolts Quartet als brillantes Kompendium von Kompositionstechniken der Moderne. In der letzten Spielzeit wurde Haubenstock-Ramatis Kafka-Oper Amerika in Zürich mit sensationellem Erfolg aufgeführt. Die Materialien dazu gehen ebenfalls an die Sacher-Stiftung.
Affirmative Wildheit zeigte die bereits in Zürich erklungene Uraufführung des Duos sh’nayim levad (leàn?) – zwei allein (wohin?) des Composers in Residence Hed Bahack (geb. 1994). Ilya Gringolts und der Viola-Virtuose Lawrence Power steigerten die Vitalitätsrendite des Werks, in dem Bahack die Extremwerte zwischenmenschlicher Kommunikation von Angst bis Krisenerfahrung suggestiv auffädelt. Bahacks Stück ist auch ein performatives Ereignis – wie Mark Kopytmans October Sun für Singstimme, Flöte, Violine, Violoncello, Klavier und Schlagzeug (1974). In dieser Schweizer Erstaufführung zeigte das Mizmorim-Festival-Ensemble auch das organisiert Ziellose der in allen Stimmen und vielen Stilen mit atonalem Fortissimo-Aufbäumen mäandernden Komposition.
Das Spannende am Mizmorim-Festival war nicht nur der Streifzug durch unbekannte Musikgefilde mit Beiträgen von Exiljuden, deren Spur sich in den Wanderbewegungen des 20. Jahrhunderts oftmals verlor. Hörende sahen sich vor der Herausforderung, die bewusste Wahrnehmung der historischen Bedingungen mit unbefangener Offenheit für das Musikerlebnis abzuwägen.
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