Gespeicherte und entfesselte Zeit in der Dampfzentrale Bern
Erwartungshaltungen fehl am Platz! Das Ensemble Proton und das Nouvel Ensemble Contemporain wagen mit Enno Poppes Zyklus «Speicher 1–6» eine klangliche Gratwanderung. Und reüssieren.
Was wohl mit Speicher genau gemeint ist? Eine Festplatte? Ein altes bäuerliches Gebäude? Oder vielleicht das menschliche Gehirn? Fragen dieser Art begleiteten einen an diesem Winterabend in das Kesselhaus der Dampfzentrale, wo sogleich die nächste Besonderheit wartete – 22 Instrumente standen auf der Bühne bereit, Harfe und zwei grosse Schlagwerke inklusive. Noch gespannter wartete man also auf die ersten Klänge und wurde erneut überrascht von einer Solo-Bratsche, die mit endlosen Glissandi schier minutenlang nach festen Tonhöhen suchte.
In diesem Werk für grosses Kammerorchester, zwischen 2008 und 2013 komponiert, bildet jeder der sechs Speicher eine eigenständige Klanglandschaft, die sich durch ihre spezifische Atmosphäre und musikalische Sprache auszeichnet. Poppe entwickelt darin eine Welt der Kontraste: von sanften, lyrischen Passagen, die an eine stille Meditation erinnern, bis hin zu kraftvollen und rhythmischen Ausbrüchen, die das Publikum aufrütteln. Die Musik ist dabei nicht immer leicht verständlich, und auch in emotionaler Hinsicht führt sie oft auf neue Pfade. Im Konzert spürte man unvermittelt, wie die Klänge die Stimmung im Saal veränderten; mal hin zu konzentrierter Aufmerksamkeit, oftmals auch zu ausgelassener Heiterkeit.
Wie die Zeit vergeht
Ein zentraler Aspekt in Speicher 1–6 ist das Spiel mit Raum und Zeit. Poppe dehnt und staucht den musikalischen Zeitfluss. Dadurch entsteht ein Gefühl von ständiger Bewegung und Veränderung, das den Hörer unweigerlich in seinen Bann zieht. Die einzelnen Speicher können als unterschiedliche Räume aufgefasst werden, die jeweils eine eigene Perspektive auf das Vergehen der Zeit haben. Manchmal scheint diese stillzustehen, während die Klänge sich endlos ausdehnen, dann wiederum beschleunigt sich das Geschehen zu einem fulminanten Ritt ins Ungewisse. Die Kombination traditioneller Orchesterinstrumente mit vereinzelten elektronischen Elementen erzeugt dabei eine einzigartige Klangkulisse, die gleichzeitig vertraut und fremdartig wirkt. Poppe schafft es, eine Brücke zu verschiedenen musikalischen Epochen zu schlagen und zugleich eine völlig neue musikalische Sprache zu entwickeln.
Sein Zyklus ist ein herausforderndes Stück, das ein hohes Mass an technischem Können und interpretatorischer Präzision erfordert. Und es verlangt von den Musikerinnen und Musikern neben Virtuosität auch ein ausgeprägtes Verständnis für die komplexen Strukturen und Feinheiten der Komposition. Die beiden Ensembles erfüllten diese Anforderungen an diesem Abend vollauf. Unter der Leitung des deutschen Dirigenten Gregor A. Mayrhofer, der mit beeindruckender Autorität und Übersicht agierte, gelang den Aufführenden eine Darbietung, die sowohl die strukturelle Raffinesse als auch die klangliche Vielfalt des Werks hervorhob. Gemeinsam sorgten sie dafür, dass die dichten, bisweilen spröden Texturen nie überforderten, sondern stets präzise und transparent blieben.
Wie Ordnung und Chaos zusammenhängen
Speicher 1–6 entwickelte sich so während rund 70 Minuten zu einem Dialog zwischen den Musikern, dem Publikum und in gewisser Weise auch dem Komponisten. Poppe fordert mit diesem Zyklus dazu auf, aktiv mitzuhören und sich ganz auf die Musik einzulassen. Dabei ist es ihm ein Anliegen, keine interpretatorischen Hinweise vorauszuschicken, keine begrifflichen Hinweise sollen das Erlebnis vorprägen. Was sich dabei ergeben kann, ist ebenso überraschend wie individuell. Oftmals scheinen diverse Synthesizer gleichzeitig aufzuheulen oder klagend zugrunde zu gehen, manchmal klingen die Streicher wie verstreute Datenträger in den letzten Momenten vor ihrer Desintegration; und immer wieder wirken die Klänge wie eine subtile Darstellung der Wechselwirkung von Ordnung und Chaos.
Das Kesselhaus der Dampfzentrale, ganz in schwarz gehüllt, erwies sich einmal mehr als passender Austragungsort. Die Akustik war angemessen trocken, die Beleuchtung manchmal vielleicht ein bisschen zu kontrastreich. Nichtsdestotrotz schien auch die Örtlichkeit diese Aufführung umstandslos in ihren mittlerweile reichen Speicher für zeitgenössisches Kunstschaffen aufzunehmen.
Die Aufführungen fanden am 17. und am 20. Dezember 2024 in Bern respektive in La Chaux-de-Fonds statt. Konzertausschnitte werden zu einem späteren Zeitpunkt auf Youtube veröffentlicht.