SNO: Mit Bruckners Dritter nach Rom
Das neu gegründete Swiss National Orchestra gastierte auf seiner ersten Auslandsreise im Vatikan und bewies seine musikalische Exzellenz.
Das einzig Suboptimale war die Akustik in der riesigen Basilika San Paolo fuori le mura in Rom. Bei mehr als fünf Sekunden Nachhall musste sogar Bruckner, der seine Sinfonien mit der Orgelpraxis im Hinterkopf komponiert hat, stellenweise kapitulieren. Ansonsten war das erste Auslandsgastspiel dieses neuen Orchesters mit Namen Swiss National Orchestra, kurz SNO, rundum geglückt. Das Konzert fand im Rahmen des vom Vatikan getragenen internationalen Festivals Musica e Arte Sacra statt. Mit einigem protokollarischem Aufwand: Unter den laut den Veranstaltern rund 2000 Besucherinnen und Besuchern befanden sich politische Prominenzen aus Italien und der Schweiz, unter anderem die Schweizer Botschafter in Italien und beim Vatikan.
An Sinfonieorchestern aller Art ist kein Mangel, wozu also noch eine Neugründung, dachte ich vor meiner Reise nach Rom. Doch die leise Skepsis, mit der ich dem Auftritt des mir bisher nur aus ominösen Pressemitteilungen bekannten Orchesters entgegensah, verflog bei den ersten Tönen des Sinfonischen Präludiums von Puccini, neben Bruckner der zweite Komponist mit Gedenkjahr 2024. Ein schön abgerundeter Bläserchor, gefolgt von einem sanft aufblühenden Streichertutti – ein perfekter Beginn, der augenblicklich in Bann schlug und eine Grundeigenschaft des Orchesters deutlich machte: das organische Zusammenwirken der Orchestergruppen, getragen von einem gemeinsamen Atem. Der delikate, mit schlafwandlerischer Sicherheit intonierte Einstieg machte Lust, das Orchester einmal mit Wagners Lohengrin-Vorspiel oder mit Debussy zu hören.
Lustvoll professionell
Der frappanten Präsenz dieses Anfangs waren die fünf Proben in Basel anzuhören, die der Reise nach Rom vorangegangen waren, ein Verdienst des Dirigenten und ehemaligen Zürcher Operndirektors Ralf Weikert. Seine gründliche Einstudierung bewährte sich vor allem bei der dritten Sinfonie von Anton Bruckner, die in der Letztfassung von 1889 erklang. Den latenten Kampf gegen die Überakustik, die leider die abrupten dynamischen Kontraste verwischte und die Struktur in den massiven Tutti – vor allem im dritten Satz – immer wieder verunklarte, bestand das Orchester glänzend. Die Präzision des Zusammenspiels liess, soweit das hörend nachvollziehbar war, in keinem Moment nach. Im langsamen Satz beeindruckten die Bläser mit fein aufeinander abgestimmtem Spiel, der auskomponierte lange Nachhall der Hörner klang zauberhaft; die Wirkung wurde hier von der Akustik ausnahmsweise unterstützt. Der vierte Satz: trennscharf in der Darstellung der kontrastierenden musikalischen Charaktere, High Energy pur und ein markanter Schlusspunkt für das sinfonische Geschehen.
Das Konzert in Rom war ein künstlerischer Erfolg. Die Gründe dafür liegen neben der disziplinierten Vorbereitung in der Professionalität, nicht zuletzt aber in der Spielfreude und im gemeinsamen Wollen aller Mitwirkenden. Dass sie eine bunt zusammengewürfelte Truppe sind, ist ihrem Spiel nicht anzumerken. Die Chemie stimmt, und wer sich mit den Musikern unterhält, bekommt einen Eindruck von der gehobenen Stimmung, wenn nicht sogar Euphorie, die unter ihnen herrscht. Rahel Cunz, Konzertmeisterin im Musikkollegium Winterthur, bringt das auf den Punkt: «Mit den meisten habe ich jetzt zum ersten Mal zusammengespielt, und das finde ich absolut spannend. Alle sind ja freiwillig dabei und machen das mit grosser Lust. Das spürt man hoffentlich auch im Publikum. Wir empfinden eine unglaubliche Freude, miteinander zu interagieren. So entsteht eine einzigartige Dynamik, und mit dieser positiven Energie machen wir unsere schöne Musik.»
Aus hiesigen und internationalen Orchestern
Swiss National Orchestra: Das klingt ambitioniert, basiert aber auf einer ebenso einfachen wie zündenden Idee. Es besteht zur Mehrzahl aus hochqualifizierten Schweizer Musikerinnen und Musikern aus Orchestern im In- und Ausland, etliche davon mit Spitzenpositionen als Solobläser und Stimmführerinnen. Um auch dem Nachwuchs eine Chance zu geben, sind auch einige talentierte Studierende zur Mitwirkung eingeladen. Von den Mitgliedern der Schweizer Orchester sind diejenigen aus Zürich, Basel, Genf und Bern besonders gut vertreten; die im Ausland tätigen kommen unter anderem aus den Sinfonie- und Opernorchestern in Barcelona, Bergen, Lyon, Berlin, München und Stockholm.
Die Anfänge des SNO liegen im Jahr 2016. Der Tessiner Musiker und heutige Intendant Igor Longato unternahm damals mit einigen Gleichgesinnten einen ersten Versuch zur Gründung, und nach langer Anlaufzeit, in der sich das Projekt schrittweise konkretisierte, ist es nun 2024 gleich mit zwei verschiedenen Programmen mit wechselnden Dirigenten an die Öffentlichkeit getreten. Beim Debütkonzert in Bern am 1. August 2024 war es John Axelrod, in Rom nun Weikert.
Privat finanziert
Mit seiner flexiblen Struktur folgt das SNO dem Modell von Orchestern wie dem 1981 gegründeten Chamber Orchestra of Europe, dem Lucerne Festival Orchestra oder den Spezialensembles für Alte Musik. Im Vergleich mit diesen im internationalen Konzertbetrieb fest verankerten Klangkörpern steht es zwar noch in seinen Anfängen, kann aber mit dem Alleinstellungsmerkmal des «Swiss made» aufwarten. Und mit dem Enthusiasmus der Newcomer. Zukunftschancen sind allemal gegeben, nicht nur von der hohen Qualität der Mitwirkenden her, sondern auch aufgrund der offenkundig gesicherten finanziellen und institutionellen Basis. Dank privaten Gönnern und Stiftungen, die vom Projekt hundertprozentig überzeugt sind, ist das Orchester weitgehend unabhängig von öffentlichen Subventionen; auch die Kosten des jetzigen Projekts in der Höhe einer stattlichen sechsstellige Summe waren so zu bewältigen. Dazu kommt eine gute Vernetzung mit Persönlichkeiten und Institutionen aus Politik und Wirtschaft, die den Aktionsradius des Orchesters national und international entscheidend erweitern kann.
Mit der Musik punkten, statt nur mit Swissness
Der Weg zu einem längerfristigen Aufstieg des SNO in die Riege der internationalen Orchester scheint also geebnet. Für ein Orchester, das über keine feste Residenz verfügt und mit Ausnahme der jährlich geplanten Konzerte in Bern an stets wechselnden Orten auftritt, stellen sich aber auch spezifische Fragen punkto Identität. Vor allem zwei Aspekte sind aktuell von Bedeutung. Da ist zum einen das Erscheinungsbild. Die bisherige Öffentlichkeitsarbeit verkauft das Orchester unter seinem Wert; die Webseite ist rudimentär, die Pressemitteilungen lassen wenig Verständnis für die genuin künstlerischen Aspekte des Unternehmens erkennen und betonen vor allem die protokollarische Funktion. Ohne entsprechende kommunikative Kompetenzen wird es aber schwierig sein, dem Orchester die Stellung im Musikbetrieb zu erobern, die es verdient.
Und dann der Schweiz-Bezug: Weniger ostentative Swissness würde vermutlich mehr einbringen. Der Vergleich mit Schweizer Markenartikeln wie Uhren und Nati verstellt den Blick auf das Kerngeschäft, und das ist die Musik. Sie ist kein Exportprodukt wie jedes andere. Die erwünschte Rolle des Orchesters als musikalischer Botschafter der Schweiz wird umso erfolgreicher sein, je mehr es künstlerisch glänzen kann. Der Werbeeffekt ergibt sich dann von selbst und muss nicht an die grosse PR-Glocke gehängt werden. Voraussetzung ist eine Programmierung, mit der es, wie jetzt im Fall von Bruckner, den Wettbewerb mit den grossen Orchestern aufnehmen kann. An Werken mit einem Schweiz-Bezug von Mendelssohn und Brahms bis Rachmaninow, Strawinsky und darüber hinaus sollte es dabei nicht fehlen. Und anders als die Nati kennen sie kein Formtief.
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Transparenzhinweis:
Die Reise kam auf Einladung des Orchesters zustande.
Website des Swiss National Orchestras: https://sno.ch
Website des Autors Max Nyffeler: https://beckmesser.info