Eine Blosslegung, eine Blossstellung
Einen bösen Alptraum zeigt das Zürcher Opernhaus: Alfred Schnittkes Oper «Leben mit einem Idioten» in der Inszenierung von Kirill Serebrennikow.
Im Film The Square (2017) des schwedischen Regisseurs Ruben Östlund gibt es eine längere Szene, bei der ein urwüchsig «wilder», gorillaartiger Mann mit nacktem Oberkörper, ein eigens dafür engagierter Künstler, eine Vernissagengesellschaft unterhalten soll. Die amüsiert sich zunächst noch, reagiert aber zunehmend irritiert, je aggressiver und hemmungsloser sich der Mann benimmt, bis schliesslich eine Frau gerade noch vor der Vergewaltigung gerettet werden kann. Was da noch einmal «gut geht», ist in Leben mit einem Idioten, der ersten und besten Oper Alfred Schnittkes, grausame Realität, zumindest in der Zürcher Neuinszenierung von Kirill Serebrennikow (der auch Bühnenbild und Kostüme gestaltete).
Der Idiot übernimmt das Leben
Das Ehepaar – Ich (Bo Skovhus) und die Frau (Susanne Elmark) – muss, so die Handlung, einen Idioten aus einer Anstalt bei sich aufnehmen, offenbar weil Ich sich etwas hat zuschulden kommen lassen. Ich wählt jemanden aus, mit dem er glaubt, tiefsinnige Gespräche führen zu können, der bringt aber nur ein stumpfsinniges «Äch!» heraus. Anfangs scheint das noch ganz amüsant, bald aber wird der Idiot aggressiver. Er schwängert die Frau, die den Fötus abtreibt, dann vergewaltigt er Ich. Die beiden leben in einer Liebesbeziehung, bedrängt nun von der Frau, die der Idiot – oder doch Ich? – schliesslich tötet. Der Idiot verschwindet; Ich wird in die Anstalt interniert. Die Rollen haben sich vertauscht. Diese Anstalt ist fast ständig auf der blossen, weissen, kahlen, kalten Bühne präsent, mithin auch der grossartige Opernhauschor.
Von der historischen zur existenziellen Deutung
In der zugrunde liegenden gleichnamigen Erzählung von Viktor Jerofejew von 1980 (er verfasste auch das Libretto) trug dieser Idiot noch historische Züge, nämlich jene Lenins, ebenso bei der Amsterdamer Uraufführung von 1992 in der Regie von Boris Pokrowski. Das war kurz nach Glasnost und Perestroika durchaus aktuell und sinnvoll. In späteren Inszenierungen erhielt der Idiot aber ein anderes Gesicht. Lenin sei in die Ferne gerückt, überschattet von einem neuen, selbstgewählten Diktator – und den wollte Serebrennikow nicht auf die Bühne bringen. Der russische Traum – war er je einer? – ist ausgeträumt. Auch andernorts wird ausgeträumt. So erfährt die einst politisch groteske Satire nun in Zürich eine breitere, eine existenziellere Deutung.
Aggressive Instinkte knapp unter der Oberfläche
Die Story zieht über fast zwei Stunden ohne Pause an einem vorbei: in einem stetigen, rastlosen, fast gleichgültigen Tempo. Ein Ereignis reiht sich ans andere, nichts wird opernmässig ausgebadet; die Emotionen scheinen erstickt. Die Handlung erscheint blank und unaufhaltsam. Fassungslos schaut man zu – soll man sich noch unterhalten, über die Absurdität lachen oder doch schon entsetzen? Nackt, ja fast schon entblösst scheint alles. Nackt und stumm bewegt sich auch der Tänzerdarsteller Campbell Caspary als Idiot durch den Raum. Seine Rolle ist aufgespalten. Den Vokalpart übernimmt Matthew Newlin, die einzige schwarz gekleidete Gestalt auf der Bühne, er trägt die Züge des Regisseurs und scheint die Handlung zeitweise auch zu lenken.
Das überzeugte zutiefst – und weckte in mir mit seiner Unerträglichkeit auch die Erinnerung an jene peinlich-beängstigende Szene aus The Square. Es überzeugt – und ist zum Verzweifeln, denn die Situation ist aussichtslos. Dabei ist sie selbst verschuldet: «Jeder wählt freiwillig seinen eigenen Idioten, auch hier und überall. Wir haben alle unsere aggressiven Instinkte, und die liegen recht dicht an der Oberfläche», sagte Jerofejew einst in einem Interview. Und das ist das Grausam-Aktuelle an diesem Stück und dieser Inszenierung, die im Übrigen gar nicht mit so vielen Schockszenen aufwartet, wie andernorts kolportiert wurde.
Die Begleitung verstummt, die Dinge liegen bloss
Jerofejew und Schnittke erzählten diese Story mit einer nüchternen Fantastik, die an die russische Tradition eines Nikolai Gogol anknüpft – und damit indirekt auch an die Vertonung von dessen Nase durch Schostakowitsch. Sie gestalten die Handlung mit zahlreichen Rückblenden, referieren das Ganze eigentlich zweimal und machen es durch diese Spiralbewegung zu einer umso schmerzlicheren Erfahrung. Schnittkes Musik, sehr beweglich gespielt von der Philharmonia Zürich unter Jonathan Stockhammer, gibt sich eingangs noch bunt polystilistisch – dafür war sie berühmt. Zahlreiche Zitate und Scheinzitate fliessen ein, erinnern etwa an Mussorgskis Boris Godunow und den dort auftretenden Schwachsinnigen oder auch an die Internationale. Mit der Zeit reduziert sich aber diese musikalische Vielfalt, die Begleitung verstummt zeitweise, der Text (deutsch gesungen – eine sinnvolle Entscheidung) wird verständlicher und eindringlicher. Die Dinge liegen bloss. Ist das nicht aktueller denn je?
Opernhaus Zürich: Aufführungen noch bis zum 1. Dezember 2024.