Nachdenken über Musikkritik

Musikkritik und Musikwissenschaft: Wo berühren sie sich? An der ZHdK diskutierte am 23. und 24. September 2024 eine namhafte Expertenrunde. Aufhänger war das Langzeitprojekt zum Nachlass des Musikkritikers Fritz Muggler.

Musikkritik hilft, Musik zu «verdauen». Symbolbild: vittore/depositphotos.com

Kurz gesagt sollte die Musikkritik-Tagung einen Kontext rund um die wissenschaftliche Aufarbeitung des Archivs von Fritz Muggler (1930–2023) schaffen. Das umfangreiche Material aus seiner langjährigen Tätigkeit wird seit 2016 an der Zürcher Hochschule der Künste (ZHdK) konservatorisch gesichert und inventarisiert. Ein erstes Projekt trägt den Titel «Im Ausland gehört»: Schweizer Komponisten und Interpreten an internationalen Festivals Neuer Musik – Perspektiven des Zürcher Kritikers Fritz Muggler. Ivan Denes, Iris Eggenschwiler und Projektleiter Lukas Näf erläuterten den Stand der Arbeiten und veranschaulichten Mugglers Arbeitsweise anhand von Kritiken über Werke Maurizio Kagels und Klaus Hubers.

Es ging also um eine musikhistorische Einordnung musikjournalistischer Beiträge. Die Gastreferate und anschliessenden Diskussionen machten deutlich, wie schwierig es ist, schlüssige Kategorien dafür zu formulieren. Oder, anders gesagt, wie die Schnittstelle Wissenschaft – Journalismus klar zu definieren wäre. Denn ein Musikkritiker ist auch ein Musikhistoriker und umgekehrt ist die Musikhistorikerin auch eine Musikkritikerin.

Der Titel der Tagung lautete Musikkritik im Kontext der Gegenwartsmusik seit dem Zweiten Weltkrieg. Die Perspektiven der Referate waren etwas «donaueschingenlastig» und konzentrierten sich mehrheitlich auf musikphilosophische Positionen von vor der Jahrtausendwende. Das ist verständlich. Denn laut Ausschreibung ging es darum, Erzählmuster oder festgefahrene Vorurteile zu erkennen, die die Bewertung und Einordnung von Musik in die Musikgeschichte beeinflussen. Die Ausführungen von Jörn Peter Hiekel (Tagungsleitung zusammen mit Lukas Näf und Dominik Sackmann), Wolfgang Schreiber, Tobias Schick, Torsten Möller, Leonie Reineke, Björn Gottstein, Martin Kaltenecker und Thomas Meyer zeugten von eingeweihter Kennerschaft. Beeindruckend, wie viele Details den Referierenden aus ihren Donaueschingen-Besuchen präsent waren oder durch die Vorträge wieder aufgefrischt wurden.

Für wen?

Interessanterweise spielte das Publikum resp. die Leserin oder der Leser der Kritiken im Rahmen der vielschichtigen Betrachtungen keine Rolle. Auch der Einfluss redaktioneller Arbeit wurde nur am Rand berührt. Musste man sich bis Anfang des 21. Jahrhunderts keine Gedanken darüber machen? Etwa weil die kulturelle Bedeutung von (westlicher) Hochkultur damals noch nicht angezweifelt wurde? Heute, 2024, sprechen die Medien mehr denn je die «Sprache des Entertainments» (Wolfgang Schreiber). Die Musikkritik wird aus dem Feuilleton der Tagespresse gedrängt und Fachzeitschriften nicht nur zur Gegenwartsmusik verschwinden.

Der Einbezug jüngerer Kritikerinnen wie Friederike Kenneweg, Hanna Schmidt oder viele andere hätte zwar den thematischen Rahmen der Tagung gesprengt, aber vielleicht frische Impulse gebracht. Denn die klassische musikalische Expertenkritik scheint ihre Bedeutung für den Musikmarkt verloren zu haben. Holger Noltze schreibt am 25. September in seinem Van-Beitrag zum Preis der deutschen Schallplattenkritik: «Aber eine unabhängige Arbeit von Kritik, die gar nicht triviale Suche nach der künstlerischen Qualität als irrelevant vom Tisch gefegt zu sehen, erhellte blitzartig die Erkenntnis: Dass sich das (seit je spezielle) Verhältnis von Markt und Kritik von Musik längst ganz entkoppelt hat; dass die alte Idee: eine gute Kritik, womöglich ein Preis hilft beim Verkauf, in der Wirklichkeit des modernen Major-Marketing kaum eine Rolle mehr spielt.» (https://van-magazin.de/mag/schallplattenkritik-marktlogik-musikkritik).

Angesichts dieses Bedeutungsverlusts stellen sich zum Verhältnis von Musikwissenschaft und Musikjournalismus weitergehende (sprich: wichtigere oder jedenfalls andere) Fragen.

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Das detaillierte Tagungsprogramm und einige Vorträge sind auf https://www.zhdk.ch/forschung/imr/imr-video-11699 veröffentlicht. Zudem ist eine Buchpublikation geplant.

Link zum Muggler-Projekt bei der ZHdK:
https://www.zhdk.ch/forschungsprojekt/im-ausland-gehoert-schweizer-komponisten-und-interpreten-an-internationalen-festivals-neuer-musik-569891

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