Donaueschingen 2024: Tiefe Klänge, Plastikklänge
Reiche Ernte heuer bei den Donaueschinger Musiktagen vom 17. bis 20. Oktober. Eine Vielfalt von Ansätzen, kaum ein Trend. Aber das ist in Ordnung so.
Mit sanfter Geste lädt die Dirigentin zum Spielen ein, sanft winkt sie ab. Es ist eine liebevolle Atmosphäre, die da entsteht, rituell, voller Erinnerung wohl auch, wobei kaum erkennbar bleibt, woran. Zu hören sind Schläge auf Schiefer, einzelne gestrichene Fäden, alles leise. Plötzlich singen auch einige schlichte Lieblingslieder, es sind Geflüchtete, die in Donaueschingen gelandet sind und nun hier mitwirken in Shared Sounds der Französin Séverine Ballon. Teilhabe, wie der Titel andeutet. Und da ist es schon wieder, das Dilemma sozial engagierter Musik. Der geschaffene Klangraum ist so signifikant dann doch nicht, als dass er etwas aussagen könnte, mehr als ein Mitmachen. Was nehmen die Teilnehmenden mit? Integriert sie das? Können sie sich ausdrücken? Oder ist es mehr das Zusammen? Viele Fragen, die das Anliegen nicht desavouieren, und dann engagierter Applaus.
Horchen in die Dunkelheit
Nicht zum ersten Mal fand eine solche Veranstaltung, bei der Aussenstehende, Nicht-Profis, Laien mitwirken, am Freitagnachmittag statt, just bevor das Festival zum Laufen kommt. So, dass man’s allzu schnell bei den vielen Eindrücken vergisst. Wie nahmen wir es mit in die folgenden Tage? Etwas davon war noch spürbar im Orchesterwerk Alter der Französin Pascale Criton. Die Sopransolistin Juliet Fraser fragte dort nach ihrer Situation in der Welt, nach der Welt selber, zu fragil schwebenden Klängen. Das Stück fragte, ohne Antwort geben zu wollen. Immer wieder schwang derlei mit: ein Horchen in die Dunkelheit der Erde bei Carola Bauckholts Kontrabassstück My Light Lives in the Dark, gespielt von Florentin Ginot im eindämmernden Schlosspark.
Am weitesten drang, nun freilich schon jenseits konkreter Fragen, in einem geistlichen Bereich der Trauer, das Klavierstück … selig ist … von Mark Andre in die Instabilität des Daseins vor. Mithilfe der Elektronik des SWR-Experimentalstudios lotete Pierre-Laurent Aimard die Tiefen des Instruments aus. Es war ein Höhepunkt des diesjährigen Festivals.
Die ästhetische Bohrmaschine
Solcher Intensität begegnete man sonst selten, ansatzweise im archaischen Orchesterwerk Unforeseen dusk: bones into wings von Chaya Czernowin oder etwas plakativer in Franck Bedrossians Rimbaud-Vertonung Feu sur moi – ungewohnt für diesen Komponisten, der hier nicht ganz die beklemmende Dringlichkeit anderer Stücke erreichte. Und wenn sich eine Gemeinsamkeit feststellen lässt, so dass fast überall die Technik, Live-Elektronik, Zuspiel, Lautsprecher, eine zentrale Rolle spielte. Der «natürlich» belassende Klang war die Ausnahme. Was Auswirkungen auf die Ästhetik hat. Bei der in Paris lebenden Italienerin Claudia Jane Scroccaro erlebte man schlicht eine weit gespannte und einnehmende Raumkomposition (On the Edge für Vokalsolistinnen, Chor und Elektronik). In vier neuen Orchesterwerken jedoch erreichte die elektronische Beimischung einen völlig neuen Sound.
George Lewis stellte in The Reincarnation of Blind Tom einen live-spielenden Solisten (den Saxofonisten Roscoe Mitchell) neben das Orchester und ein KI-gesteuertes Klavier – eine frappierende Mischung, interessant im Einzelnen, aber kaum im Zusammenspiel. Als Simon Steen-Andersen jedoch in grosso das verstärkte Keyboard-Perkussions-Quartett Yarn/Wire mit dem SWR-Symphonieorchester verband, hörte man kaum einen «natürlichen» Klang mehr, sondern etwas industriell Plastifiziertes. Einzelne Klänge, Bohrmaschinen etwa, wurden dabei integriert. Wie bei diesem Komponisten überhaupt – fast exemplarisch – auffiel, dass er das Konzepthafte, das vor ein paar Jahren noch so en vogue war, zugunsten der Klanglichkeit zurückdrängte. Man hörte also der Bohrmaschine zu und dachte kaum mehr darüber nach, was sie nun hier zu suchen habe. Eine ähnliche Ästhetisierung fand auch beim Chilenen Francisco Alvarado statt. In REW • PLAY • FFWD knüpft er bei der guten alten Musikkassette und ihren Spulgeräuschen an – auf witzige Weise.
Poppig-Vergnügliches technisch verzwickt
Und schliesslich war da noch das hyperrasante Ding, Dong, Darling, in dem Sara Glojnarić ihre Queerness thematisiert – was aber sofort in den Hintergrund trat bei diesen hochvirtuosen, aberwitzigen Abläufen. Das war, wie übrigens schon die zuvor erwähnten Stücke, äusserst unterhaltsam, poppig in der Wirkung, kaum real, eben wie plastifiziert, aber durchaus plastisch, erfreulich frech und innerhalb dieses Rahmens vielleicht ein wenig anzüglich. Jedenfalls erhielt Glojnarić dafür den Preis des SWR-Symphonieorchesters zugesprochen. (Video Schlusskonzert)
So viel Vergnügen gab’s schon lange nicht mehr in Donaueschingen, und man fragt sich unweigerlich nach der Zukunft dieser Musik: Ob man sie nämlich nicht erfolgreich in den Konzertsaal transferieren könnte. Dort wartet vielleicht ein jüngeres Publikum auf solche Klanglichkeit. Da zeigt sich denn das andere Dilemma. Die technischen Anforderungen an die Elektronik scheinen mir so hoch, dass sie nur selten zu erfüllen sind. Die Studio-Apparaturen sind wohl einfach noch zu aufwendig … Wir werden sehen.
Unpoppiges Drumset
Als PS nun noch das Ganze umgekehrt: Von einem Element der Popmusik ausgehend, dem so standardisierten Drumset, hat Enno Poppe eine ganz andere, unpoppige, aber sehr vielgestaltige Musik entworfen. Streik (warum dieser Titel?) verlangt zehn Drumsets und entsprechend zehn hervorragende Schlagzeuger (hier das Percussion Orchestra Cologne). Wer nun dachte, dass es gleich losginge, musste lange zuwarten. Laut wurde es kaum je, groovig nur in Ansätzen, eher hörte man auf Nuancen. War der zweite Schlag aller zehn nicht ein wenig unpräzis, fragte man sich etwa gleich zu Beginn, worauf der weitere Verlauf die Antwort lieferte: natürlich nicht, sondern präzise daneben. Auf solchen Details baute Poppe immer wieder weite Entwicklungen auf, manchmal fast ein bisschen didaktisch, weil erhellend, aber doch über fast eine Stunde mit einem ungemeinen Erfindungsreichtum.
Aus dem Archiv
Einige frühere Berichte über die Donaueschinger Musiktage
Thomas Meyer: Verlorenheiten und Ausbrüche – Donaueschinger Musiktage 2023
Thomas Meyer: Glücksgefühl und Melancholie – Donaueschinger Musiktage 2019
Torsten Möller: Komplexitäten, digital und primitiv – Donaueschinger Musiktage 2018
Torsten Möller: Kontext statt Text – Donaueschinger Musiktage 2017
Torsten Möller: Plurale Positionen – Donaueschinger Musiktage 2016