Cardews «The Great Learning» in Basel

Neun Laien- und Profiensembles mit etwa 300 Mitwirkenden wagten sich an ein Monumentalwerk der englischen Avantgarde. Sie bewegten sich singend, pfeifend und spielend einen lieben Sonntag lang durch die Pauluskirche.

 

«The Great Learning» (1968–70) von Cornelius Cardew. Der Contrapunkt Chor und Publikum mit § 2 am 26. Mai 2024 in der Kulturkirche Paulus. Foto: Susanna Drescher

Es war der grosse Wunsch von Marianne Schuppe, The Great Learning des englischen Avantgardisten Cornelius Cardew vor ihrem Abschied aus der Basler Sektion der Internationalen Gesellschaft für Neue Musik erstmals integral in Basel aufzuführen. Dies bedeutete einen nicht alltäglichen Aufwand und etwa anderthalb Jahre Vorbereitungszeit. Das rund sieben Stunden dauernde Stück aus dem Jahr 1969 besteht aus sieben Paragrafen. Sie entsprechen dem gleichnamigen Konfuzius-Text. Das Stück gilt neben dem vollständig grafisch notierten Treatise (1967) als Cardews Hauptwerk.

Vom Avantgardisten zum Aktivisten

Cornelius Cardew, 1936 geboren, studierte Mitte der Fünfzigerjahre Cello, Klavier und Komposition an der Royal Academy of Music in London (später wurde er daselbst Professor) und elektronische Musik an der Hochschule für Musik in Köln. Dort wurde er enger Mitarbeiter von Karlheinz Stockhausen. Er hat unter anderem auch mit John Cage zusammengearbeitet. Ab 1965 pflegte er als Mitglied des Ensembles AMM radikale Improvisationstechniken, inspiriert von Cages aleatorischem Prinzip.

Um 1969 The Great Learning aufzuführen, gründete er sein legendäres Scratch Orchestra, dem sowohl Berufs- als auch Laienmusikerinnen und -musiker sowie bildende Künstlerinnen und Schauspieler angehörten. An seiner zunehmenden politischen Radikalisierung zerbrach das Orchester später, da er es in den Dienst seiner Umsturzgedanken stellen wollte. Innerhalb weniger Jahre entwickelte er sich vom musikalischen Avantgardisten zum radikalen Maoisten. In seinem Buch Stockhausen serves imperialism rechnete er mit seinen einstigen Lehrmeistern ab und distanzierte sich gar von seinen eigenen Hauptwerken Treatise und The Great Learning, welche unter deren Einfluss entstanden waren. Cardew starb im Alter von 44 Jahren in einem Verkehrsunfall.

Profis und Laien

Die konfuzianische Philosophie geht vom Anspruch der moralischen Vervollkommnung der Gesellschaft aus, der sich das Individuum unterzuordnen und seine ihm zugewiesenen Aufgaben zu erfüllen habe. Die Partitur von The Great Learning basiert auf Ezra Pounds Übersetzung der sieben Paragrafen und kommt als «action score» mit relativ wenigen Noten aus. Cardew organisiert die kurzen Texte, fügt Grafiken ein und gibt präzise Ausführungsanweisung, bei denen die jeweilige Ensembleleitung eine entscheidende Rolle spielt. Der Autor unterscheidet klar zwischen Profis und «untrained voices». Bei der Aufführung vom 26. Mai an der Pauluskirche kam denn auch ein durchmischtes künstlerisches Personal zum Einsatz. Zu hören waren Chöre und Ensembles aus der Region Basel unter ihrer jeweiligen Leitung.

Individuum und Kollektiv

Wer nur schmerzende und schreiende Dissonanzen erwartet hatte, wurde überrascht. Es entstand eine Art Education-Projekt-Stimmung und das Publikum wurde über weite Strecken mit einer beschaulichen Szenerie und einer repetitiven Wohlfühlharmonik bedient. Neun Einzelformationen gaben sich ein Stelldichein, wobei jede einen der sieben unterschiedlich langen Paragrafen bestreiten durfte. Einzig in Paragraf 5 waren drei Gruppen beteiligt. Neben dem professionellen Vokalensemble Larynx, gepflegt von den Emporen herunter klingend, durften sich das Ensemble Impronext der Musikschule Basel und die Klassen 2A und 2B des Gymnasiums Kirschgarten auf der Spielfläche im Kirchenrund singend, spielend und Geräusche erzeugend lustvoll betätigen.

Während die komplexe Organisation dieses Paragrafen allein 12 der 23 Partiturseiten beansprucht, kommt der rein vokale Paragraf 7, der einiges länger dauert, mit einer halben Seite aus. Hier sind bloss die Textteile und die Einsätze der Mitwirkenden notiert. Im Kleingedruckten finden sich die «Gebrauchsanweisungen». Den Einzelnen werden klare Aufgaben zugewiesen: Wann und auf welcher Tonhöhe sie einzusetzen haben, wie lange sie singen sollen, um einen homogenen Gesamtklang zu erreichen. «If the root be in confusion, nothing will be well governed», das war die Kernbotschaft. Sie wurde konzentriert und während 75 Minuten nonstop von pourChœur dargeboten wurde. Der Raumklang der Kirche wurde dabei auf beeindruckende Weise einbezogen.

Der Chor des Gymnasiums Münchenstein bot in Paragraf 1 einen wirkungsvollen Auftakt mit Pfeif- und Orgelklängen sowie Sprechchören. Darauf folgte eine disziplinierte Vorstellung des Contrapunkt Chors aus Muttenz (Paragraf 2). Das Ensemble Liberté verkündete in Paragraf 3, ganz in Weiss und sich in klaren Formen bewegend, den Zusammenhang von starker Verwurzelung und gesundem Geäst. Paragraf 6 kommt als einziger ganz ohne Stimmen aus. Christoph Schiller und seine Instrumentalistinnen tupften subtile Klanggebilde in den Raum. Und in Paragraf 4 schliesslich war der Basler Beizenchor nicht nur stimmlich, sondern auch mit Rhythmusinstrumenten im Einsatz.

Das konfuzianische Prinzip des Zusammenwirkens von Individuum und Kollektiv wird in Cardews Partitur gekonnt gespiegelt. Auch bei ihm steht die Freiheit des Einzelnen immer im Dienst des übergeordneten Ganzen.

Radio SRF 2 Kultur berichtet über diese Produktion am 26. Juni 2024 ab 20 Uhr in den Sendungen Musik unserer Zeit und Neue Musik im Konzert

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