Mizmorim: Weit über den eigenen Tellerrand hinaus

Das zehnte Mizmorim-Kammermusikfestival zeigte Psalm-Adaptionen aller Orte und Zeiten.

Eröffnungskonzert am 25. Januar im Musiksaal des Stadtcasinos Basel mit dem Lucerne Festival Contemporary Orchestra unter der Leitung von Tito Ceccherini und u.a. mit Ilya Gringolts. Foto: Zlatko Mićić

«Wer ist Frank Zappa?», fragt eine ältere Dame in der Reihe hinter mir in der Basler Gare du Nord. Das ist ihr gutes Recht. Denn die in der New Yorker Avantgarde schwadronierende Rock-Ikone hat mit «Tehillim», dem Motto des diesjährigen Mizmorim-Kammermusikfestivals, nur am Rande zu tun. Soeben hatte sich der Schlagzeuger Christian Dierstein im Konzert 150 + 1 Psalmen in einem imposanten Aufbau aus Röhren, Platten und Perkussionsinstrumenten in Position gestellt. Er brachte Peter Eötvös‘ Solostück Psalm 151. In memoriam Frank Zappa aus dem Jahr 1993 zu Gehör. Eötvös bezeichnet seinen Nekrolog als «Psalm». Die «Tehillim», der alttestamentarische Psalter, umfasst bekanntermassen 150 Psalmen. Den 151. Psalm gibt es dort also nicht.

Diese programmatische Hinterlist zeigt die Strategie zur zehnten Austragung des Festivals vom 24. bis zum 31. Januar. Seit 2015 setzt man, was aus dem Rahmen der eigenen jüdischen Kultur hinausweist und für Musikerinnen und Musiker anderer religiöser Prägungen zur Inspiration wurde, in ästhetisch und historisch spannende Zusammenhänge: «Mizmorim» heisst im Hebräischen «Psalmen» und ist demzufolge ein Gattungsbegriff, der sich gleichermassen auf Quellentexte und seine Vertonungen oder andere Adaptionen bezieht.

Jüdisches Leben und jüdischer Glaube

Bis zur diesjährigen Ausgabe konnten die künstlerische Leiterin Michal Lewkowicz, die in den früheren Festivals auch als Klarinettistin aufgetreten war, und Präsident Guy Rueff das Profil mit Hilfe eines wissenschaftlichen Beratungsteams schärfen. Zusammen mit der festlichen Eröffnung im Musiksaal des Casinos Basel gab es zwölf Konzerte: Solostücke, Lieder, Kammermusik und ausnahmsweise Werke an der Schwelle zu grösseren Orchester- und Vokalbesetzungen. Jugendangebote, Vernetzungen, Auftragskompositionen waren zum Jubiläum doppelt so zahlreich, das Festival doppelt so lang wie sonst.

Jazz mit dem Vein-Trio: Michael Arbenz (Klavier), Thomas Lähns (Kontrabass), Florian Arbenz (Schlagzeug). Foto: Zlatko Mićić

«Es freut mich, dass das Publikum den Weg zu uns findet», sagte Lewkowicz nach dem Eröffnungskonzert, artikulierte aber Ängste über die kriegerischen Entwicklungen im Gazastreifen seit dem 7. Oktober 2023. Acht Wochen vor Festivalbeginn hatte sie vorsorgend eine deutliche Willkommensbotschaft ausgesendet. Es sollte sich niemand vom Jubiläum ausgeschlossen fühlen, vor allem nicht bei der zwei Jahre lang vorbereiteten Kooperation zwischen Mizmorim und der Beit-Yosef-Synagoge der Israelitischen Gemeinde Basel. «Die Synagoge ist nicht nur Gebetsort, sondern auch ein Versammlungsraum. Letzteres wird oft vergessen», sagte Lewkowicz. «Das Festivalbüro wurde mit ‹Free Palestine› besprüht und Rabbiner Moshe Baumel wurde angespuckt»,» berichtete sie wenige Tage vor Festivalbeginn der Basler Zeitung.

Zum ersten Mal stand Mizmorim nicht unter einem Motto mit konkretem historischem oder theoretischem Bezugspunkt wie in den letzten Jahren, als 2023 zum Beispiel im «Projekt Blau-Weiss» eine musikalische Perspektive auf die Bewegung für einen jüdischen Nationalstaat vor Gründung des Staates Israel entwickelt worden war. Jüdisches Leben und Gläubigkeit sollten im Jubiläumsjahr erst recht mit möglichst vielen, auch für Aussenstehende interessanten Facetten und Farben reflektiert werden.

Ein mustergültiges Beispiel für die programmatische Mizmorim-Strategie war das Konzert Psalm geheim am Freitagvormittag. Ein regulärer Werktag für eine Matinee ist ungewöhnlich und zeugte vom Mut der Veranstalter. Der Zunftsaal im Schmiedenhof war gut gefüllt, obwohl nur ein «Zugstück» (Biblische Lieder des katholischen Tschechen Antonín Dvořák), dafür eine tönende Visitenkarte des Festivals auf dem Programm stand: Secret Psalm für Violine solo von Oliver Knussen (1952–2018), als Schweizer Erstaufführung Der Ewige ist mein Hirte, Psalm 23, von Alexander Uriyah Boskovich (geb. 1954) sowie Werke von Aram Hovhannisyan, Victor Alexandru Colțea und Eleni Ralli, den Preisträgern der ersten drei Mizmorim-Kompositionswettbewerbe 2018, 2020 und 2022.

Konzert «Psalm geheim» im Zunftsaal im Schmiedenhof. Foto: Zlatko Mićić

Viel Musik des 20. und 21. Jahrhunderts

«Ich liebe Mendelssohn sehr, aber anderes ist heute weitaus wichtiger», sagte Lewkowicz. Ohne dass es explizit im Titel steht, gehört das Festival inzwischen zu den Hotspots der Neuen Musik in Basel. Wer die Mizmorim-Programme der letzten Jahre Revue passieren lässt, wird ein Abnehmen von Liedern und dafür eine wachsende Zahl von Werken mit individuell gemischten Instrumental- und Vokalbesetzungen feststellen. Die Aufführung der Tehillim von Steve Reich mit dem Lucerne Festival Contemporary Orchestra unter dem für den erkrankten Baldur Brönnimann eingesprungenen Tito Ceccherini im Casino Basel war auch die erste Kooperation von Mizmorim mit den Basler Madrigalisten. Eine weitere Premiere war die Liveübertragung von Mizmorim Jazz mit Psalmen-Improvisationen des Vein-Trios aus dem SRF-Radiostudio. Das Publikum – insgesamt zählte man 3200 Besucherinnen und Besucher – reagierte auf die Novitäten mit offenherzigem Applaus und Begeisterung für die spieltechnischen Herausforderungen. Vielbeschäftigt als Berater und Geiger war Ilya Gringolts.

Kompositionen in traditionellen Kammerbesetzungen erklangen von Alfred Schnittke, Frank Martin, Gideon Klein, Bohuslav Martinů und Arnold Schönberg, im Eröffnungskonzert zudem die Uraufführung des Auftragswerks Mimma’amaqim für Stimmen und Ensemble von Helga Arias (geb. 1984). Das  Konzert Pro Pacem unter der künstlerischen Gesamtleitung von Jordi Savall in der Martinskirche Basel beendete das Festival. Der Anteil von Musik des 20. und frühen 21. Jahrhunderts war ausserordentlich hoch. Die besondere Anknüpfung an den 100. Geburtstag von György Ligeti ergab sich durch die Ausstellung Ligeti-Labyrinth im Musikmuseum Basel. Die Kuratorin Heidy Zimmermann – sie ist eine dem Mizmorim-Festival seit Gründung eng verbundene Beraterin – wies darauf hin, dass Ligeti, dessen Vater und Bruder in Konzentrationslagern ums Leben gekommen waren, seine jüdische Herkunft immer als Privatsache, nicht als künstlerisch wesentliches Thema betrachtet hatte.

Schlusskonzert «Pro Pacem» in der Basler Martinskirche. Foto: Zlatko Mićić

Festivals mit dem Anspruch auf Vielfalt und Exklusivität gibt es viele. In einer Phase der politischen Zuspitzung, in welcher sich Teile der jüdischen Bevölkerung sogar in der Schweiz zunehmend bedroht fühlen, bewies das Mizmorim-Kammermusikfestival hohes Format. Es lud ein zu einer Werkschau mit Wurzelfäden hebräischen Ursprungs in internationale Kulturen und stellte Adaptionen aus weltlichen Kulturkreisen vor. Das Genre des Psalms («Mizmorim») und die Anthologie «Der Psalter» («Tehillim») wurden als über religiöse Dimensionen hinausweisende Quellen kenntlich.

Nächstes Jahr findet das Mizmorim-Kammermusikfestival vom 29. Januar bis zum 2. Februar in Basel statt.

 

Ergänzung am 29. Februar 2024:
Link zur Ausstrahlung des Eröffnungskonzerts auf Pavillon Suisse 

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