«Heil dir, Helvetia»
Das schweizerische Nationalbewusstsein beruht auf Mythen. Eine Tagung an der Hochschule der Künste Bern fragte, welchen Zwecken sie dienen. Warum sie in Kunst und Wissenschaft manchmal zertrümmert werden, kam nur am Rand zur Sprache.
Die Frau ist allgegenwärtig. Sie ziert Münzen und Briefmarken, thront als Statue oben auf der Front des Bundeshauses und kommt in der ehemaligen Landeshymne vor: Es ist die allegorische Figur der Helvetia, der Beschützerin und Mutter der Eidgenossenschaft. Unser Nationalbewusstsein beruht zu einem grossen Teil auf Mythen. Auch die Erzählungen von Wilhelm Tell, von der Wiege der Demokratie, der Willensnation oder der Neutralität sind solche Mythen. In der Nachkriegszeit, vor allem aber im Gefolge der Achtundsechziger-Bewegung wurden diese in Kunst und Wissenschaft kritisch hinterfragt und oft genussvoll demontiert.
Identitätsbildendes Handeln
«Mythenzertrümmerung: schmerzhaft & lustvoll», lautete das Motto der Tagung vom 23. Januar an der Hochschule der Künste Bern. Anlass dazu bot die Vorstellung der Publikation Musicking Collective – Codierungen kollektiver Identität in der zeitgenössischen Musikpraxis der Schweiz und ihrer Nachbarländer, die an der Hochschule der Künste Bern (HKB) im Rahmen eines Nationalfonds-Projekts entstanden ist. Herausgeber sind der Komponist, Regisseur und Musikwissenschaftler Leo Dick, die Komponistin und Interpretin Noémie Favennec und die Performerin und Musikforscherin Katelyn Rose King. Mit der Wortschöpfung «Musicking», die vom amerikanischen Musikologen Christopher Small übernommen wurde, teilen die Herausgeber die These, dass das Wesen der Musik nicht primär in Kompositionen, sondern im kollektiven Handeln von Personen begründet sei. Musikausübung wirke somit identitäts- und gemeinschaftsstiftend.
Die Beiträge des Sammelbandes befassen sich mit dem zeitgenössischen Musiktheater vorwiegend in der Schweiz unter dem Aspekt der Konstruktion und Dekonstruktion von Wir-Identitäten. Dick selber stellt in seinem Aufsatz Der Schatten von Mutter Helvetia zwei Vertonungen von Jeremias Gotthelfs Novelle Die schwarze Spinne einander gegenüber. In Heinrich Sutermeisters Funkoper von 1934 erkennt der Autor den affirmativen Reflex der Geistigen Landesverteidigung, in Rudolf Kelterborns Fernsehoper von 1984 dagegen die kritische Auseinandersetzung im Gefolge der Jugendunruhen in verschiedenen Schweizer Städten.
Gesellschaftskritik und Zukunftsmusik
Bei den übrigen Referaten der Berner Tagung lag der Fokus nicht immer auf der Musik. Heike Bazak, Leiterin des PTT-Archivs in Bern, entschlüsselte den Zusammenhang zwischen den verschiedenen ikonografischen Darstellungen der Helvetia auf Schweizer Briefmarken und dem jeweiligen Zeitgeist. Die Historikerin Noëmi Crain Merz sprach über neuere Frauenbewegungen in der Schweiz und ihren Umgang mit Geschlechterrollen.
Zurück zur Musik führte der Beitrag der Musikethnologin und Filmemacherin Lea Hagmann. Sie stellte ihren Dokumentarfilm Beyond Tradition: Kraft der Naturstimmen (2023) vor, den sie zusammen mit Rahel von Gunten und dem Produzenten Thomas Rickenmann realisiert hatte (Red. siehe Film-Bericht von Wolfgang Böhler). Dokumentiert werden der Appenzeller Naturjodel sowie zwei vergleichbare ausländische Traditionen. Die beiden Filmemacherinnen waren an der Frage interessiert, wie sich solche Traditionen mit innovativen Ansätzen verbinden lassen. Dabei habe sich herausgestellt, dass sowohl der Hauptdarsteller als auch der Produzent Angst vor einer möglichen «Mythenzertrümmerung» bekommen hätten. Vor dem Hintergrund des Konflikts zwischen Kunst und Kommerz sei der Film schliesslich weniger gesellschaftskritisch geworden, als Hagmann das gerne gehabt hätte.
Zu Mythen können auch Institutionen oder Publikationen werden. Geradezu Kultstatus hat inzwischen der 2002 eröffnete Gare du Nord im Badischen Bahnhof von Basel erlangt. Der kuratierte Produktions- und Aufführungsbetrieb für die zeitgenössische schweizerische (und internationale) Musikszene bekommt im Sommer 2024 mit dem Komponisten und Performer Andreas Eduardo Frank eine neue künstlerische Leitung. Im Gespräch mit Leo Dick skizzierte der Designierte seine Vorstellungen: Generationenwechsel bei Künstlern und Publikum, Strukturveränderungen und pluralistischer künstlerischer Ansatz. Zu Konkreterem liess sich Frank trotz Nachfragen nicht bewegen.
Dissonanzen und Partisanen
Zu einem Mythos «post festum» ist auch die 2018 eingegangene Zeitschrift Dissonance/Dissonanz, das Leitmedium der zeitgenössischen Schweizer Musikproduktion, geworden. Die Gründe für das Ende waren finanzielle Schwierigkeiten und Meinungsverschiedenheiten zwischen Redaktion und Trägerschaften. Wie Phönix aus der Asche ist 2022 mit der Online-Plattform Partisan Notes ein neues Medium erstanden. Der Musikphilosoph Christoph Haffter, Mitherausgeber der Plattform, und die Musikwissenschaftlerin Jasmin Goll orientierten über die Ausrichtung des neuen Organs. Es handelt sich dabei nicht um eine direkte Nachfolgepublikation von Dissonance/Dissonanz. Denn Partisan Notes ist international ausgerichtet und erscheint auf Englisch. Die Plattform steht für Unabhängigkeit, ästhetischen Pluralismus und Parteinahme für eine zeitgenössische Musik, die sich der Kritik stellen will. Neben Essays zu verschiedenen Themen bietet die Plattform Berichte von Workshops, die mit wechselnden Veranstaltern zeitgenössischer Musik durchgeführt werden. Bei den Workshops kommen Kritiker, Komponisten und Interpreten miteinander ins Gespräch und «erleuchten» sich wechselseitig.
In der anschliessenden Diskussion meldeten sich vorwiegend kritische Stimmen: Durch die internationale Ausrichtung verliere die schweizerische Szene an Bedeutung. Das Englische habe die in Dissonance/Dissonanz herrschende helvetische Zweisprachigkeit des Deutschen und des Französischen verdrängt. Mit dem Online-Medium gehe die Sinnlichkeit einer physischen Publikation verloren. Und Partisan Notes sei zu abgehoben.
Zur Versöhnung und Abrundung überraschte Katelyn King in Cathy van Ecks In paradisum für Performerin und Live Electronics mit einer witzigen Darbietung. Die apfelessende Eva konnte man im Zusammenhang des Tagungsthemas auch als eine feministische Umdeutung von Tells Apfelschuss interpretieren.