Rückblick mit Phantomschmerzen
Eine Tagung zum Thema «Musik-Diskurse nach 1970» an der Hochschule der Künste Bern.
Das inhaltliche Spektrum war breit, dafür sorgte neben der Vielfalt der Themen auch die internationale Ausrichtung. Ein Schwerpunkt der von Thomas Gartmann, dem Leiter der Forschungsabteilung der Hochschule der Künste Bern (HKB), konzipierten Tagung (23. bis 25. März) lag zwar auf der Schweiz und dem Tonkünstlerverein (STV), doch gab es daneben zahlreiche Beiträge über die Entwicklungen in west- und osteuropäischen Ländern, in Südafrika und den USA. Auch die Genderthematik kam zur Sprache. So kam eine perspektivenreiche Tagung zustande, die mit ihrer Vielzahl an Informationen und Standpunkten zum produktiven Weiterdenken anregte.
Die Eckpunkte markierten zwei Referate zu Beginn und am Schluss. Zum Auftakt nahm Jörn Peter Hiekel die Einseitigkeiten und Dichotomien im Fortschritts-Diskurs der Avantgarde seit den Fünfzigerjahren kritisch unter die Lupe, wobei er Adorno und seinem nachhaltigen Einfluss ein Sonderkapitel widmete. Er tappte aber nicht in die Falle der damals üblichen Schwarz-Weiss-Malerei – hier die Progressiven, dort die Reaktionäre –, sondern sprach sich für eine unvoreingenommene, aber historisch informierte Denkweise aus.
Den Gegenpol bildete das ideologisch verengte Schlussreferat von Jessie Cox, einem Schweizer Komponisten, Drummer und Pädagogen mit Rastazöpfen, der sich dem Kampf gegen die kulturelle Hegemonie des weissen Mannes verschrieben hat und mit identitätspolitischen Begriffshülsen nur so um sich warf. Ausgehend von der unglücklichen «Diversity»-Thematik des Lucerne Festival 2022 dozierte er via Zoom aus New York eine Dreiviertelstunde lang über den unausrottbaren Rassismus der Schweizer und apostrophierte ihre Medien, allen voran die NZZ, als Sprachrohre einer unreflektierten Anti-Blackness. Cox wird im August nun live beim Lucerne Festival auftreten. Für Unterhaltung ist also gesorgt.
Brisante Fragen ausgeklammert
Der Diskurswandel als historischer Prozess wurde nur vereinzelt explizit thematisiert. Was ist in musikalischer Hinsicht aus Habermas’ Diskursethik geworden, was lehrt uns Foucaults Ordre du discours über den heutigen Musikbetrieb? Solche brisanten Fragen lagen ausserhalb des Erkenntnisinteresses der versammelten Musikwissenschaftler. Auch die tiefgreifenden Veränderungen in der Musikkritik wurden nur beiläufig und vom hohen musikologischen Ross herab angesprochen. Die Referate kreisten meist um konkrete Phänomene und Projekte, um ästhetische Trends und institutionelle Probleme. So entstand zwar ein Panorama von durchaus kritischen Momentaufnahmen, aber ein Referat, das solche Detailaspekte in einen grösseren zeitlichen Horizont eingerückt hätte, wäre zweifellos ein Gewinn gewesen. Nicht oder nur ansatzweise diskutiert wurden zum Beispiel zwei auch für die Musik einschneidende Haupttrends der letzten fünfzig Jahre: das immer deutlicher sich abzeichnende Ende des Eurozentrismus und die mediale Revolution.
Erloschene Leuchttürme
Was die Medien angeht, so untersuchte immerhin Pascal Decroupet am Beispiel des französischen Spektralismus den Einfluss der Digitalisierung auf das Komponieren, und Einblicke in die Fernsehwirklichkeit gaben Thomas Meyer, der an die Produktionen von Armin Brunner mit Mauricio Kagel erinnerte, sowie Mathias Knauer, der nachwies, wie im Deutschschweizer Fernsehen experimentelle Musikfilmproduktionen im Lauf der Jahre auf null gesetzt wurden. Er wünschte sich einen politisch-emanzipatorischen Umgang mit dem Medium zurück, wie ihn einst Walter Benjamin imaginiert hat – ein lobenswerter Gedanke, der aber heute angesichts der von globalen Kapitalinteressen gesteuerten Medienindustrie pure Utopie ist.
Ein anderes Modell der Kulturförderung durch das Massenmedium Fernsehen stellte Gabrielle Weber mit zwei Reihen von Musikfilmen vor, die 1970 beim Westschweizer Fernsehen und 2001 bei DRS produziert wurden. Während die ältere Produktion das Musikschaffen in einen soziokulturellen Zusammenhang stellte und beispielsweise den Komponisten André Zumbach bei der Arbeit mit dirigierenden Kindern zeigte, waren die zehn Filme, die der Regisseur Jan Schmidt-Garre im Auftrag von DRS und dem STV drehte, ganz auf die Komponistenpersönlichkeiten und ihre Werke fokussiert. Mit der Veröffentlichung auf dem damals neuen Medium DVD erreichten die Filme von 2001 ein Publikum, das über die reinen Fernsehzuschauer hinausging. Die Gegenüberstellung der beiden Serien machte etwas vom Perspektivwechsel sichtbar, der sich in den Künsten innerhalb von dreissig Jahren abgespielt hat.
Darüber hinaus gab es damals noch eine enge Zusammenarbeit vor allem von Radio DRS mit dem Tonkünstlerverein. Sie ist Gegenstand eines Forschungsprojekts, über das Stefan Sandmeier und Tatjana Eichenberger berichteten. Der Unterschied zur Gegenwart ist eklatant: Heute verstehen sich die Fernsehanstalten vorwiegend als Distributionsmedium, sie kaufen fertige Produktionen ein oder beteiligen sich bestenfalls noch an Koproduktionen. Die Musikfilme sind mit Ausnahme von quotenträchtigen Aufzeichnungen von Massenevents oder Starportraits in die Spartenkanäle wie Arte, 3sat und in global abonnierbare Satelliten- und Internetkanäle abgewandert.
Diese Realitäten sind unumkehrbar und es nützt nichts, sie zu beklagen. Einen dialektischen Seiltanz vollzog in dieser Hinsicht Peter Kraut, der mit einer Mischung von Selbstironie und präziser soziokultureller Analyse, aber ohne Nostalgie auf die «goldenen Zeiten» der von ihm kuratierten Veranstaltung Taktlos Bern sowie Tonart Bern zurückblickte. Es waren Leuchttürme in der alternativen Musikszene des ausgehenden 20. Jahrhunderts.
Musik am Gängelband der Partei
Zwei grosse Themenbereiche fielen ins Auge. Da waren einmal die Rückblicke ost- und mitteleuropäischer Referentinnen auf die Musikpolitik im ehemaligen Ostblock. Die Beobachtungen der Litauerin Rūta Stanevičiūtė, wie im Kommunismus die nationalen Traditionen der systemstabilisierenden Doktrin des Sozialistischen Realismus dienstbar gemacht wurden, fanden dabei eine Parallele im Referat von Jelena Janković-Beguš (Belgrad) über die Kulturpolitik des blockfreien Jugoslawiens. Am Beispiel der zentralen Figur Nikola Hercigonja zeigte sie den politisch gewollten Filz von Partei und künstlerischem Schaffen auf. Der Komponist und Funktionär Hercigonja wurde von der Partei und den von ihr kontrollierten Medien zum musikalischen Nationalhelden aufgebaut, mit dem Resultat, dass seine pompöse Ästhetik in der serbischen Musik bis heute nachhallt. Zu den Absetzbewegungen von diesem Erbe gehört heute auch das avantgardistische Quantum Music Project aus Belgrad, dessen sieben Mitglieder eine erfrischende Verbindung von musikalischem Experiment, technischer Neugier und der Suche nach neuen sozialen Modellen praktizieren.
Die lustigen Baracken
Das Musikleben im Sozialismus war keineswegs uniform. Abseits der offiziellen Institutionen versuchten Musiker immer wieder, die engen Spielräume für eine alternative Praxis zu nutzen. Sie wurden von der Partei an der langen Leine geführt wie zum Beispiel in der DDR die Gruppe Neue Musik Hanns Eisler, deren Mitglieder von den Siebzigerjahren an auch mehrfach im Künstlerhaus Boswil zu Gast waren. Oder wo die Kontrolle löcherig war wie in dem als «lustigste Baracke im sozialistischen Lager» beneideten Ungarn, entstanden künstlerische Keimzellen mit Langzeitwirkung auch noch über 1989 hinaus – ein Beispiel ist der Werdegang des jungen Peter Eötvös. Ein Zentrum von geradezu magnetischer Anziehungskraft für alle freiheitlich gesinnten Musiker war ab 1956 das Festival Warschauer Herbst im kommunismusresistenten Polen; hier konnten sich Ost und West zum offenen Dialog treffen. Den Stimmen aus dem ehemaligen Ostblock räumte man in Bern erfreulicherweise viel Platz ei–n – für die westeuropäische Musikwissenschaft ist das keineswegs selbstverständlich.
Der STV, eine Erinnerungsneurose
Die Geschichte des STV ist bekanntlich Gegenstand eines Nationalfonds-Projekts, das nun auch den Rahmen für die Berner Tagung abgab. Folgerichtig drehte sich der zweite grosse Themenkomplex um den STV. Bemerkenswert, dass das in enger Verknüpfung mit der Diskussion um die freie Improvisation geschah – offenbar ist das ein Problembündel, das noch immer musikpolitische Neurosen wachzurufen vermag. Noch bemerkenswerter ist, dass der institutionelle Niedergang des STV und seiner Zeitschrift Dissonanz/Dissonance parallel zum Aufkommen der freien Improvisation verlief, die, publizistisch breit diskutiert, zu einem beliebten Gegenstand der Kulturförderung wurde und schliesslich an den Hochschulen zur institutionalisierten Gattung aufstieg. Konterkariert wurden diese Verfestigungstendenzen durch den Auftritt von Carl Bergstroem-Nielsen (Kopenhagen). Sein «Referat» bestand aus einer szenisch-musikalischen Performance des unschlüssigen Suchens und zufälligen Findens, durchbrochen von plötzlichen Einfällen – eine willkommene Auflockerung.
Nach den ausgiebigen Diskussionen um die Improvisation und ihren Stellenwert im Musikleben drängte sich dem Aussenstehenden ein Gedanke auf: Wirkte diese schweizerische Spielart des Dekonstruktivismus und der Negation des tradierten Werkbegriffs etwa als ästhetisches Ferment, das den Zerfallsprozess des STV auf diskursiver wie auf personalpolitischer Ebene beschleunigte? Mit der Auflösung des Werkbegriffs schwanden auch der Einfluss und das Engagement der altgedienten Aktiven im Vereinsleben – feste Strukturen waren nun eben verpönt. Die späte Einsitznahme von Improvisatoren in die Leitungsgremien des STV war nur ein äusseres Zeichen des schleichenden ästhetischen Paradigmenwechsels.
Defaitismus und struktureller Zerfall
Der Stecker gezogen wurde dem STV letztlich durch die Förderpolitik des Bundesamts für Kultur, das für künstlerische Aktivitäten keine Gelder mehr zur Verfügung stellte. Vor dem sich anbahnenden Fiasko verschlossen Vereinsmitglieder und Gremien die Augen. In seinem Referat beschrieb Thomas Gartmann den lange sich hinziehenden Countdown mit erbarmungsloser Deutlichkeit. Nach dieser Bilanz erscheint das Desaster wie ein Lehrbeispiel für institutionelles Versagen und angesichts der Passivität der Mitglieder zudem als ein demokratiepolitisches Fanal. Die Gründe, so darf man vermuten, sind in den Köpfen zu suchen: Werteverlust, Orientierungslosigkeit und folglich Tatenlosigkeit gegenüber einer sich verändernden Wirklichkeit, die man nicht wahrhaben wollte. In ihrem Akt der Selbstdestruktion durch Geschehenlassen – das Ganze weckt Assoziationen an eine Marthaler-Inszenierung – erwiesen sich die Verantwortlichen des STV freilich als echte Avantgarde. Sie waren der Zeit weit voraus, wie ein Blick auf den aktuellen Fall der Credit Suisse bestätigt.
In den Diskussionen zu dieser tristen Rückschau wurde übrigens unisono das Verschwinden des musikalischen Diskurses beklagt und der verblichenen Dissonanz/Dissonance ein Kränzchen gewidmet. Dass die SMZ ein Forum für einen solchen Diskurs sein könnte, kam niemandem in den Sinn. Sie wurde nicht einmal erwähnt. Doch möglicherweise ahnten die Anwesenden, dass die Zeit für die alten Diskurse vorbei ist. Nur, wie ein neuer aussehen sollte, weiss noch niemand. Ein Blick auf die heutige Wirklichkeit könnte da vielleicht helfen.
Die «Schweizer Musikzeitung» ist Medienpartnerin der Tagung «Musik-Diskurse nach 1970»