Bach und Reize: in Leipzig angekommen
Leipzig feiert die Festanstellung Johann Sebastian Bachs als Thomaskantor vor 300 Jahren. Der Schweizer Dirigent Andreas Reize leitet den Thomanerchor seit rund zwei Jahren.
«Bach kommt an», steht auf dem Programmheft des Thomanerchors Leipzig. Der doppeldeutige Konzerttitel verweist zum einen auf die beiden Bewerbungskantaten BWV 22 und 23, die Johann Sebastian Bach für seine Kantoratsprobe am 17. Februar 1723 in der Leipziger Thomaskirche komponierte. Zum anderen erzählt der Titel auch von der einzigartigen Erfolgsgeschichte von Bachs Musik, die auch im 21. Jahrhundert weltweit ausstrahlt und ihn heute im Klassikbereich zum mit Abstand meistgehörten Komponisten macht. Leipzig feiert 300 Jahre Johann Sebastian Bach. 27 Jahre wirkte er hier als Thomaskantor, bis zu seinem Tod am 28. Juli 1750.
Jubiläumskonzert in der Thomaskirche
Andreas Reize ist der 18. Thomaskantor in der Nachfolge von Johann Sebastian Bach. Zum Jubiläumskonzert hat der Schweizer ein umfangreiches, anspruchsvolles Programm zusammengestellt, das neben den beiden Bach-Kantaten vier- bis fünfstimmige Motetten und geistliche Madrigale weiterer Thomaskantoren wie Moritz Hauptmann, Gottlob Harrer oder Johann Hermann Schein präsentiert. Auch sechsstimmige, für den Thomanerchor geschriebene Kompositionen aus der Geistlichen Chor-Music op. 11 von Heinrich Schütz werden an diesem Abend in der voll besetzten Thomaskirche Leipzig aufgeführt.
Traditionsgemäss auf der Empore um die Wilhelm-Sauer-Orgel stehend, entfaltet der Thomanerchor unter Reize einen ganz transparenten, aber durchaus voluminösen Klang. Die Textverständlichkeit ist hervorragend. In vielen Kompositionen ist ein tänzerischer Gestus zu spüren, den Reize mit grossen, schwungvollen Bewegungen, oft ganztaktig dirigierend auch einfordert. Die Intonation des Chores dagegen ist gelegentlich eingetrübt. Die tiefen Männerstimmen geraten etwa bei Moritz Hauptmanns Kyrie und Gloria zu dominant und auch eine Spur zu tief, die Balance kommt in Schieflage. Aber der schlichte Schlusschor aus Jesus nahm zu sich die Zwölfe BWV 22 über der virtuosen Orchesterbegleitung besticht gerade in den hellen Knabensopranen. Das Gewandhausorchester Leipzig glänzt mit rhythmischem Drive und exquisiten Solisten (Oboen!). Auch Bachs zweite Bewerbungskantate Du wahrer Gott und Davids Sohn BWV 23 verbindet in Reizes Interpretation Innigkeit mit Leichtigkeit. Der Dirigent ist nah beim Chor und gestaltet grosse Bögen.
Traditionen und neue Konzepte
Trotz seiner erstklassigen, weit in die Zukunft weisenden Musik war Johann Sebastian Bach bei der Bewerbung um das Thomaskantorat nur dritte Wahl. Die Leipziger Ratsherren hatten nach dem Tod von Johann Kuhnau schon Georg Philipp Telemann zum neuen Thomaskantor gewählt, bevor er nach drei Monaten die Stadt wegen einer deutlichen Gehaltserhöhung seines Arbeitgebers in Hamburg versetzte. Auch der Darmstädter Hofkapellmeister Christoph Graupner hatte das bedeutende Amt bereits in der Tasche, wurde aber von seinem Dienstherrn nicht freigestellt. Erst dann entschied man sich für Johann Sebastian Bach, den man zur Sicherheit auch eingeladen hatte.
Die Wahl von Andreas Reize zum Nachfolger von Gotthold Schwarz dagegen verlief einstimmig. Nur in der Zeit danach sorgte ein offener Brief von einigen Thomanern, die sich übergangen fühlten, für Unruhe. Einen katholischen Schweizer konnten sie sich als Leiter des renommiertesten evangelischen Kirchenmusikamts nicht vorstellen. Beim Gespräch mit Reize im Alumnat, dem Internat des Thomanerchors gegenüber der Thomasschule, zeigt sich der Solothurner diesbezüglich schmallippig: «Dazu möchte ich nach zwei Jahren kein Wort mehr sagen. Man spürt es ja, dass es hervorragend läuft.» Auch die Frage nach seiner inzwischen erfolgten Konversion zum Protestantismus handelt Reize mit wenigen Worten ab. «Es war für mich von vornherein klar, dass ich konvertieren werde – die Presse hat es nur erst ein Jahr später mitbekommen. Kirche ist für mich Heimat. Und meine Heimat ist nun die Thomaskirche und Thomasgemeinde.»
Der 47-jährige Musiker, der unter anderem in Solothurn bis 2021 den traditionsreichen Knabenchor der St. Ursenkathedrale leitete, möchte nach vorne schauen und geniesst die tägliche, intensive musikalische Arbeit mit den Thomanern, die in der Schulzeit jede Woche mindestens eine Bachkantate aufführen. Reize hat eine feste Tagesstruktur eingeführt. Beim Einsingen setzt er auf Bewegungsspiele und Hilfsmittel wie Therabänder zur Erhöhung der Körperspannung. «Besser singen, angstfrei singen – und es auch mal lustig haben», lautet sein pädagogisches Konzept. Auch musikalisch geht der betont selbstbewusst auftretende Dirigent neue Wege, indem er gerade für das Label Rondeau mit einer nur 24-köpfigen Chorbesetzung und der Akademie für Alte Musik Berlin in einer besonderen Aufstellung Bachs Johannespassion aufgenommen hat.
In der Arbeit mit dem Leipziger Gewandhausorchester ist ihm historische Aufführungspraxis ebenfalls wichtig, was Phrasierung und Vibratogestaltung angeht. Reize schätzt auch die Forschungsarbeit des Bach-Archivs Leipzig, mit dessen Leiter Peter Wollny und seinem Team er in regelmässigem Kontakt steht. Dass er nicht nur weiterhin alle zwei Jahre in Solothurn auf Schloss Waldegg Barockopern dirigieren wird, sondern auch von der Leipziger Oper als Dirigent für dieses Repertoire angefragt wurde, freut den neuen Thomaskantor.
Die Stadt ist stolz auf ihre Musik
2023 wird sich der Thomanerchor beim auf mehrere Jahre angelegten Projekt «Bach300» rege beteiligen und neben anderen Chören Bachs ersten Leipziger Kantatenjahrgang, exakt abgestimmt auf das Kirchenjahr, zur Aufführung bringen. «Dass wir dabei abwechselnd in der Thomaskirche und der Nikolaikirche singen, wie das zu Bachs Zeit üblich war, seit dem Verbot von 1943 aber nicht mehr praktiziert wurde, ist für uns eine besondere Freude», sagt Reize. Beim unter dem Motto «Bach for future» stehenden Bachfest Leipzig (8. bis 18. Juni 2023) wird der Thomanerchor im Eröffnungskonzert neben den Kantaten Singet dem Herrn ein neues Lied BWV 225 und Die Elenden sollen essen BWV 75 eine zu diesem Anlass komponierte Kantate von Jörg Widmann uraufführen und sich in einem weiteren Kantatenkonzert am 15. Juni mit Knabenchören aus Dresden, Windsbach und Hannover messen.
In Leipzig vermisst der Schweizer die Berge. «Ich mag die Offenheit der Stadt und die vielen Grünflächen. Leipzig ist zwar eine Grossstadt, hat aber trotzdem auch einen dörflichen Charakter.» Dass am Hauptbahnhof für das Gewandhausorchester und den Thomanerchor geworben werde, gefalle ihm sehr. «Die Musik hat hier eine enorme Bedeutung für die Stadt – etwas Vergleichbares gibt es leider in der Schweiz nicht.» Und was mag der Thomaskantor an der Musik von Johann Sebastian Bach? «Die Tiefe. Die Verbindung von Wort und Musik in seinen Werken ist einzigartig!»
Georg Rudiger war von der Projektleitung »Bach300 – 300 Jahre Bach in Leipzig« in Kooperation mit Leipzig Tourismus und Marketing zu «Bach kommt an» eingeladen.