Kein Geschwafel
In seiner ersten Ausgabe wartete das World Ethic Forum in Pontresina mit einer Besonderheit auf: der Uraufführung von Gérard Zinsstags Ensemblestück «Divagations».
Graubünden scheint der bevorzugte Flecken für Foren zu sein, die ambitioniert das Wort «World» im Namen tragen. Am bekanntesten ist wohl das «World Economic Forum» in Davos, zu dem jährlich pilgert, wer sich der internationalen Wirtschafts- und Politelite zugehörig fühlt. Ein Ort, um in erlauchter Umgebung die Probleme der Welt zu diskutieren – oder viel heisse Luft zu produzieren, wie Kritiker monieren. Weniger bekannt ist das World Ethic Forum in Pontresina. Auch, weil es heuer am letzten August-Wochenende zum ersten Mal stattfand: «Ein Wochenende mit Wanderungen, Tieren, Pflanzen, philosophischen Sitzungen, Economy of Love und Common Goods, einem Parlament der Dinge, einer Nacht der tanzenden Schamanen, einer musikalischen Uraufführung und viel Dialog», wie es in der Einladung hiess. Die programmatischen Differenzen zu Davos könnten grösser nicht sein, wie sich auch am versteckten Hinweis auf die Darbietung eines Musikstücks zeigt.
Denn eigens für das Forum komponierte Gérard Zinsstag das Ensemblestück Divagations, das am 27. August vom Ensemble Proton Bern uraufgeführt wurde. Ein Konzert mit Neuer Musik wäre in Davos wohl undenkbar. Besonders eines mit einem Werk, das bewusst als herausfordernde Hörerfahrung vom Forum gewünscht wurde und das bereits in seiner Titelwahl in reizvoller Ambivalenz schillert. «Divagations» könnte man nämlich als Geschwafel übersetzen, und ein Schelm, wer dahinter einen Kommentar des Komponisten zur Diskussionskultur ebensolcher Foren vermutet. «Divagations» heisst auch Ab- oder Ausschweifung, und als solche interpretiert der Widmungsträger Linard Bardill den Titel. Der Liedermacher und Autor ist Mitgründer und Geschäftsleiter des World Ethic Forums und erlebte das Werk als «Musik voller neuer Wege, Abwege und Traumpfade». Damit hat er sicher nicht unrecht, denn Divagations ist ein Stück, dessen Reichtum einen erst einmal sprachlos zurück-, das Geschwafel verstummen lässt. Stetig wechseln energische, angriffige Klänge mit Stellen berückender Schönheit ab, Dissonanzen mit schwebenden Konsonanzen. Das komplette Tonhöhenspektrum wird ausgenützt, wie sich schon an der Verwendung des Lupofons zeigt, eines neueren Instruments aus der Oboenfamilie, das deren Tonumfang erheblich nach unten erweitert.
Mit wachem Geist zuhören
Wahrscheinlicher aber ist, dass sich Zinsstag im Titel auf Stéphane Mallarmés kurz vor dessen Tod veröffentlichte Sammlung Divagations bezieht, in welcher der Dichter seine Idee von kritischen Gedichten einführte, von «essais poético-critiques», wie er sie nannte. Diese Gattung, konzipiert als Mischung aus Essais, Poesie und Kritiken, ist der Versuch, die Welt der Kunst mit der intellektuellen Betrachtung der Welt zu vermählen – und ist damit eine mögliche Antwort auf die alte Frage, wie Kunst mehr sein kann als blosse Unterhaltung, wie sie «ernste» Themen abhandeln kann. Eine Frage, die in der textlosen Musik umso drängender ist und auf die man sich gerade in einer Komposition für das World Ethic Forum einlassen muss. Gérard Zinsstags Titelwahl ist ein Fingerzeig und ermahnt die Zuhörer, mit wachem Geist zuzuhören.
Überraschend ist das nicht. Der 1941 in Genf geborene Komponist ist sicherlich die perfekte Wahl, um der schwierigen Aufgabe gerecht zu werden. Als Schüler Helmut Lachenmanns gehört die Reflexion der gesellschaftlichen Dimension von Musik, von Klängen, für ihn quasi zum Handwerk. Und als Begründer der Tage für Neue Musik Zürich, 1985 gemeinsam mit Thomas Kessler, bewies Zinsstag, dass er Veränderung anstossen kann und will. Ohne diesen Kraftakt wäre Zürich heute nicht die Musikstadt, die es ist.
Wie aber manifestiert sich diese kritische Dimension in Divagations? Ähnlich wie Lachenmann setzt Zinsstag auf die wahrnehmungsverändernde Wirkung von Musik und vertraut dabei unter anderem auf die Kraft roher Klangtypen und Geräusche. Jedenfalls ist deutlich erkenn- und spürbar, dass er die rohe musikalische Materialität der artifiziellen Klangerzeugung auch in Divagations vorzieht. Auf der anderen Seite sucht Zinsstag aber nach einer beinahe körperlich erfahrbaren Sinnlichkeit, die verzaubert und berückt. Der immense Effekt des Stücks resultiert nun aus der Vermischung oder vielmehr der Gegenüberstellung dieser beiden Ebenen. Überaus sinnbildlich tritt dies in den Überschriften der drei Sätze hervor, die nahtlos ineinander übergehen: Lento/Agitato, Agitato/Comodo, Inquieto/Agitato. Jeder Satz changiert stets zwischen «erregt», «ungestüm» (Agitato) und etwas anderem, mit Lento und Comodo etwas gänzlich Gegenteiligem («langsam/locker» bzw. «gemütlich»). Lediglich gegen das Ende hin tritt ein «unruhig» zu «erregt» hinzu und intensiviert so die Dringlichkeit.
Da ich nicht vor Ort anwesend war und das Konzert in einem Mitschnitt mitverfolgte, kann ich zur Interpretation des Ensembles Proton Bern nichts sagen. Divagations ist auf jeden Fall zu wünschen, dass es seinen Weg aus den Bündner Bergen in die weite Welt hinaus findet.