Anmutige Vokalmusik und aufwühlende Sinfonien
Vor zehn Jahren starb der Bündner Komponist in Chur. Die Fundaziun Gion Antoni Derungs würdigte sein Wirken mit einem Festival Anfang September.
Komponist, Chorleiter, Organist, Klavier- und Orgellehrer. Alle diese Rollen hat Gion Antoni Derungs, einer der bedeutendsten rätoromanischen Tonschöpfer, in seinem Leben eingenommen. Geboren 1935 in Vella, studierte er in Zürich und war bis zu seinem Tod im Jahr 2012 in seinen verschiedenen Berufen aktiv. Über neunhundert Kompositionen zeugen von seiner immensen Schaffenskraft, die von einer seltenen Gattungs- und Stilvielfalt geprägt ist. Inspiriert von der reichen rätoromanischen Gesangs- und Liedkultur nahm er Volksmelodien in seine Werke auf, beschäftigte sich mit der Avantgarde und suchte trotzdem immer seinen eigenen kompositorischen Weg. Aus Anlass seines zehnten Todestages würdigte ihn die Stiftung Fundaziun Gion Antoni Derungs mit einem Festival.
Komponist der Avantgarde
Am Eröffnungskonzert im Theater Chur präsentiert das Ensemble ö! sechs kammermusikalische Werke, die Derungs in den 1960er- und 1970er-Jahren komponierte und ihn von seiner avantgardistischen Seite zeigen. Teils freitonal, teils inspiriert von Volksmusik sind die Werke beim ersten Hören nicht immer gänzlich fassbar, so vielschichtig und komplex sind seine Kompositionen. Gut also, dass Totentanz gleich zweimal gespielt wird: Die Violine führt zu Beginn mit einer Melodie, welche stets von Clusterakkorden und Einwürfen von den anderen Instrumenten unterbrochen wird. In der zweiten Version bietet das zuweilen etwas zurückhaltend spielende Ensemble ö! mehr Intensität und Variation in der Dynamik. Kalt läuft es einem den Rücken herunter bei den unheimlichen Klängen.
Auch im Orgelkonzert in der Martinskirche mit Tobias Willi ist Derungs Beschäftigung mit der Avantgarde zu spüren. Vereint sind im kontrastreichen Programm Kompositionen von Derungs, Otto Barblan und Duri Sialm. Während Barblans Stücke mit grosser klanglicher Prachtentfaltung arbeiten, sind Derungs Kompositionen viel feingliedriger. Oftmals bestehen sie aus einer einzelnen melodiebezogenen Stimme, die von wechselnden Akkorden begleitet werden.
Freund aller Sänger
Ein besonderes Juwel im Festivalprogramm ist das Concert da Chor Sacral mit dem Ensemble Vocal Origen. Unter der Leitung von Clau Scherrer führt das Ensemble geistliche Vokalwerke auf, welche Derungs zwischen 1974 und 2010 komponierte. Die Cantiones Sacrae, Canzuns Religiusas und Cantica bestechen durch eine besondere Anmut in der Stimmführung. Oft schreitet Derungs über den Rahmen der Tonalität hinaus und schöpft mit Wechseln zwischen lyrischen Passagen und rhythmisch bewegteren Versen die Möglichkeiten des Stimmklangs aus.
Im Zentrum des Konzerts steht die Missa pro defunctis. Ruhige Zufriedenheit, eine Art innere Reflexion durch die Musik bestimmen diese Gedenkmesse. Kein Hang zu Wehklagen oder Trauer geht von der Musik aus, sondern eher ein Gefühl der innigen Kontemplation über das Leben und Sterben. Das letzte «Lux aeterna» der Messe erstrahlt im Kirchenraum, fast so, als ob gleich die Sonne aufginge. In perfektem Zusammenklang und in einer wunderbaren Ausgewogenheit der Stimmen singen die 16 Sänger und Sängerinnen. Die Bezeichnung «Freund aller Sänger», ein Ausspruch von Clau Scherrer, erweist sich an diesem Abend als ungemein zutreffend, scheint Derungs doch ein besonderes Gespür für die Stimme gehabt zu haben.
Für die Weitergabe von Derungs’ Musik an die nächsten Generationen ist am Festival schon gesorgt. Drei Kinder- und Jugendchöre aus Graubünden und Solothurn singen rätoromanische und deutsche Lieder, die lustig-hüpfend oder nachdenklich-melancholisch bis emotional tief berührend sind. Einen kleinen Einblick in das musiktheatralische Schaffen bietet das Singspiel Salep e la furmicla. Die Kinder des Chors gehen vollkommen im Spiel auf und singen und rezitieren mit absoluter Sicherheit.
Autobiografischer Sinfoniker
Von wieder einer anderen Seite lernt man Derungs im Festkonzert in der Martinskirche kennen: Die 3. Sinfonie Aus meinem Leben und Rogationes sind vielleicht die intensivste und aufwühlendste Musik, die am Festival gespielt wird. Woran mag er gedacht haben, als er diese musikalischen Orkane, Triumphstürme und schalkhaften Episoden in die Sinfonie eingeschrieben hat? Gross angelegte, dichte Klangflächen, bestehend aus einem Flirren in den Streichern, virtuosen Melodiepassagen in den hervorragenden Holzbläsern und einem Fundament aus bedrohlichen Basslinien, bestimmen sie. Wildes Donnern des ganzen Orchesters wird abgelöst von spritziger Freude in Solopassagen in Piccolo und Xylofon. In dieser durchgehenden Intensität von Klängen könnten die einzelnen Elemente schnell ineinander verschwimmen. Nicht so beim Orchestra della Svizzera italiana, dessen Interpretation ein wahrer Genuss ist. Jedes Flirren, jedes Grollen, jeder musikalische Witz ist unter der Leitung von Philippe Bach deutlich wahrnehmbar, die Balance zwischen den Orchestergruppen ist ungemein gut getroffen. Weniger Klangflächen dafür mehr Geräusche kommen bei der Uraufführung von Rogationes zum Zug. Bei dieser Darstellung von katholischen Bittprozessionen wird Luft durch die Blasinstrumente gepfiffen, mit den Bögen über die Saiten gekratzt oder mit der Holzseite des Bogens auf die Saiten getippt. Nach diesen zwei bewegend-aufwühlenden Werken von Derungs werden mit Jean Sibelius’ 3. Sinfonie die seelischen Wogen wieder etwas geglättet.
Die Konzerte am Gion-Antoni-Derungs-Festival zeigten zahlreiche Schätze aus dessen Schaffen und viele weitere gäbe es noch zu entdecken. Derungs Musik kennenzulernen und den Geschichten aus seinem Leben zu lauschen, ist schlichtweg eine Bereicherung.
Transparenzhinweis: Die Schweizer Musikzeitung ist Medienpartnerin des Gion-Antoni-Derungs-Festivals 2022.