Davos-Festival: Flunkern im Kurort

Das Davos-Festival Young Artists in Concert vom 6. bis 20. August 2022 nimmt es mit der Wahrheit nicht so genau, lässt aber wahrhaft seltene Kammermusik hören.

Offenes Zäuerli-Singen an der Festival-Wanderung mit Onna Stähli. Foto: Yannick Andrea

Im Kirchner-Museum glosen die Berge in Purpur-, Violett- und Blautönen, wo sie doch, wenn man aus dem Fenster schaut, grasgrün und felsgrau sind. Aber nicht aus diesem Grund überspannen Schriftbanderolen mit dem Begriff «flunkern» die Strassen. In Davos übt sich das Festival Young Artists in Concert im Flunkern, Schummeln, Lügen und Wahrheit-Sagen. Dieses Festival ist wahrlich etwas anders als die meisten. Es geht nicht um eine Bündelung von Prominenz, die anreist, ihr Programm abliefert und wieder weg ist. Nach Davos werden junge Musikerinnen und Musiker eingeladen, die am Anfang ihres Berufslebens stehen. Und sie sollen hier nicht «abliefern», sondern sammeln: Auftrittserfahrung, neue Spielpartner, unbekanntes Repertoire, Eindrücke. Festivalleiter Marco Amherd findet es wichtig, dass sie auch mal einen Ausflug machen können, dass sie die Konzerte der anderen besuchen, dass sie sich austauschen. Kurz: dass sie ein bisschen Zeit haben. (Vielleicht als positiver Nachklang auf all die Zeit, die Kurgäste hier vor hundert Jahren auf sehr viel freudlosere Weise verbringen mussten.)

Frischzellen fürs Repertoire

Amherd sucht die Teilnehmerinnen und Teilnehmer sorgfältig aus. Einige haben sich bei ihm beworben, andere sind ihm bei einem Wettbewerb oder anderer Gelegenheit aufgefallen. Er überlegt sich, ob ihnen das Konzept entsprechen und ob sie sich mit den anderen verstehen könnten. Wenn die jungen Leute dann anreisen, haben sie ihre Stimmen eingeübt, geprobt wird aber vor Ort – mit den Kammermusikpartnern, die sie in der Regel dort kennenlernen. Stunde der Wahrheit in gewisser Weise. Das Festival schenke ihnen enorm viel Vertrauen, findet ein Teilnehmer, denn Marco Amherd höre sich zwar die Generalprobe an, die Interpretation erarbeiteten sie jedoch unter sich.

Diese Festivalrezeptur löst jegliche Programmierkrämpfe. Amherd nutzt die Freiheit mit Vergnügen: «In der Regel programmiere ich alles selbst, zuerst das übergeordnete Thema, dann die einzelnen Konzerte. Manchmal machen mir Teilnehmende oder bestehende Ensembles Vorschläge. Aber ich staune oft, wie wenig innovativ diese sind.» Da leistet der 34-Jährige Abhilfe. Zum (weit gefassten) Begriffsfeld «flunkern» kreist ein Abend beispielsweise um Werke, die von einem totalitären Regime als Lüge diffamiert und verboten wurden. Da trifft die Klaviersonate Nr. 2 «From Old Notebooks» von Aleksandr Mosolow auf das Klaviertrio in C-Dur von Bohuslav Martinů und die Klarinettensonate von Edison Denisow. Ein Nachmittag verschreibt sich dem Flunkern, wie es in Kinderbüchern die tollsten Welten herzaubert: Thierry Escaichs Scènes d’enfant au crépuscule, Francis Poulencs Oboensonate und Histore de Babar werden am Ende eingefangen von Thomas Adès’ Catch. Am Barockabend geht es um «lügenhafte» Autorschaft und die vorgetäuschte Darstellung von Tieren oder Instrumenten. An einem Abend mit gruseligen Sagen erklingt neben Camille Saint-Saëns’ Danse macabre in einer Kammerversion auch die Conte fantastique von André Caplet. Er ist im Konzert im ehemaligen Sanatorium auf der Schatzalp ganz besonders an seinem Platz, erlitt er doch in den Schützengräben des ersten Weltkriegs eine Gasvergiftung, von der sich seine Lunge nie mehr ganz erholte.

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Das Trio Incendio am Sagenabend auf der Schatzalp. Foto: Yannick Andrea

 

Die jungen Musikerinnen und Musiker spielen die oftmals schwierigen Werke mit grossem Können, mit Frische und Begeisterung, die sich aufs Publikum überträgt. (Die Reihen sind allerdings, wie bei so vielen Veranstaltungen derzeit, spärlicher besetzt als vor Corona.) Am heftigsten fiebern jeweils die Kolleginnen und Kollegen mit. Vielleicht lässt sich der eine oder die andere ja vom Entdeckervirus anstecken.

Ganzkörper-Behandlung

Am Barockabend sitze ich neben Einheimischen, die sich erzählen, was sie dieses Jahr schon gehört haben. Auch regelmässige Davoser Sommergäste gehören zu den Habitués. Das Festival pflegt sein Publikum neben den regulären Konzerten durch tägliche, kostenlos zugängliche Orgelmomente in der Kirche St. Theodul, offene Singen in der Pauluskirche und kleine Pop-up-Ständchen am Bahnhof. In diesem Jahr wird es sogar eine Ballett-Mitmachstunde geben, denn im Schlusskonzert wird getanzt. «Wenn schon zwei Tänzer hier sind, sollen doch gleich alle ausprobieren können, wie das so ist», findet Marco Amherd. Eine durchaus körperliche Erfahrung ist auch die alljährliche Festival-Wanderung, diesmal als «Pfad der Wahrheit» betitelt. Beim steilen Anstieg nach der Kaffeepause dämmert einem tatsächlich die Wahrheit über die eigene Fitness. Als musikalische Wegzehrung gibt es gleich zu Beginn Harfenklänge vor Postkartenaussicht, später Znüni mit Bläsertrio. Vor dem Mittagessen lässt Onna Stäheli, die Leiterin der offenen Singen, die Wanderer auf einer Wiese Aufstellung nehmen und nach kurzem Einstudieren ein Zäuerli durchs Tal schicken. Und beim Abschluss in der winzigen Kirche von Sertig-Dörfli ist man mit müden Beinen und ausgelüftetem Kopf besonders empfänglich für aussergewöhnliche Klänge: Maurice Ravel, Kaija Saariaho und Philippe Hersant vermögen die umgebenden Berghänge ungelogen purpur, violett und blau zu beleuchten.

Weitere Veranstaltungen bis am 20. August

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