Musik in schwierigsten Zeiten

«Voice of Ukraine» nannte das ukrainische Staatsorchester seine Tournee durch Polen und Deutschland. Über den Besuch des Konzerts vom 29. April in Freiburg.

Ukraine-Fähnchen stecken in den Schnecken der Kontrabässe. Foto: Elizabeth Zherebchuk

Kräftiger, lang anhaltender Applaus brandet auf, bevor eine Note gespielt ist. Ein schüchternes Lächeln huscht über die Gesichter der jungen Musikerinnen und Musiker, die die Bühne im Freiburger Konzerthaus betreten. Blau-gelbe Fähnchen stecken in den Schnecken der Kontrabässe. Auch im Parkett ist die ukrainische Fahne zu sehen. Vor wenigen Wochen lebten die Orchestermitglieder noch unter Bombenbeschuss in Kiew. Die meisten von ihnen flohen nach Polen – einige sind in der ukrainischen Hauptstadt geblieben. Eigentlich darf kein Mann zwischen 18 und 60 Jahren das von Russland angegriffene Land verlassen. Für die Mitglieder des Kyiv Symphony Orchestra wurde von der Regierung eine Ausnahme gemacht, weil sie als Kulturbotschafter eine wichtige Aufgabe erfüllen. Die ukrainische Schreibweise der Hauptstadt im Orchesternamen ist für sie bedeutsam. Auch damit wird die eigene Kultur betont, die Russlands Präsident Wladimir Putin dem Land abspricht. Auf dem Programm stehen bis auf eine Ausnahme Werke ukrainischer Komponisten. Musik zur Stärkung der kulturellen Identität. Und als Trost in schwierigsten Zeiten.

Das Kyiv Symphony Orchestra gibt es bereits seit 40 Jahren. Das Staatsorchester spielt bei nationalen Feiertagen, aber hat auch schon grosse Opernproduktionen realisiert und setzt sich für Musikvermittlung ein. Nach der Flucht konnte das Orchester zwei Wochen in Warschau für die kurzfristig geplante Deutschlandtournee proben, die in sieben Tagen in sieben grosse Städte führte. Der von den Albert-Konzerten veranstaltete Abend zu Gunsten des Orchesters ist der einzige in Baden-Württemberg. «Ich dachte, die erste Probe läuft chaotisch, weil die Musikerinnen und Musiker lange Zeit nicht üben konnten. Aber ich spürte von Beginn an eine besondere Intensität in ihrem Spiel», sagt Dirigent Luigi Gaggero im persönlichen Gespräch nach dem Konzert. «Täglich erreichen uns furchtbare Nachrichten aus der Ukraine. Freunde und Verwandte sterben. Wir sprechen darüber im Orchester. Die Musik hilft sehr, um diese Emotionen auszudrücken und sich gegenseitig Halt zu geben.» Diese existenzielle Bedeutung von Musik sei im Klassikbetrieb ein wenig verloren gegangen. Als Dirigent möchte er Raum zum Zuhören schaffen: «Die Emotionalität kommt vom Orchester!» Der Italiener verwendet bewusst keinen Dirigierstab, sondern leitet sein Orchester mit den Händen. Er möchte nichts einfordern, sondern zum Musizieren einladen.

Berezovsky, Silvestrov, Ljatoschynskyi

Der Konzertabend startet mit der Sinfonie Nr. 1 in C-Dur vom in der Nähe von Sumy in der Nordukraine geborenen Maksym Berezovsky (1745–1777). Zärtliche, helle, charmante Musik im Mozart-Stil ist das – die beiden Komponisten waren in Bologna sogar beim gleichen Lehrer. Gaggero dirigiert mit einem Lächeln. Der aus Odessa stammende Aleksey Semenenko, seit 2021 Violinprofessor in Essen, spielt beseelt Ernest Chaussons Poème und veredelt die ein wenig kitschgefährdete Melodie von Myroslaw Skoryk. Semenenko war selbst in der Ukraine, als der Krieg losging – und hatte grosse Schwierigkeiten, nach Deutschland ausreisen zu dürfen. Nun sorgt er sich in Deutschland um seine Eltern und seinen Bruder, die weiterhin in Odessa leben. In seiner berührenden Zugabe lässt er Johann Sebastian Bachs Adagio aus der ersten Solosonate in g-Moll in die Serenade des noch lebenden ukrainischen Komponisten Valentin Silvestrov münden. Und zeigt im erzählerischen Ton und den Akkordbrechungen die enge Verbindung zwischen den Komponisten.

In Borys Ljatoschynskyis 1950 komponierter 3. Sinfonie geht es um die Brutalität der Masse und den Wert des Individuums. «Der Friede wird den Krieg besiegen», hatte der Komponist ursprünglich über den letzten Satz geschrieben, musste aber den Titel nach Stalins Kritik wieder streichen. Die gespielte Urfassung endet zwar auch bombastisch, aber mit dem musikalischen Material des Friedens. Kein Sieg der Gewalt also, die immer wieder in den Blechbläsern und dem martialischen Schlagzeug Dominanz gewinnt. Auch lyrische Soli in Englischhorn und Flöte finden Raum. Grosser Applaus für das Kyiv Symphony Orchestra – bei der als Zugabe gespielten ukrainischen Nationalhymne, die im Publikum von einigen ukrainischen Flüchtlingen mitgesungen wird, fliessen Tränen.

Eine Ausnahmegenehmigung hatten die männlichen Musiker nur bis zum Tourende in der Elbphilharmonie Hamburg am 1. Mai. Nun wurde sie verlängert. Das Orchester wird einige Tage in Füssen bleiben und an einem neuen Programm arbeiten, berichtet der Dirigent mit Freude. Die Mission des Kyiv Symphony Orchestra geht weiter.

https://kyivsymphony.com


(SMZ) Luigi Gaggero leitet das Kyiv Symphony Orchestra seit 2018. Im Juni wird er mit dem Ensemble Proton Bern Werke von Samuel Andreyev erarbeiten für das Porträt-Konzert vom 14. Juni.
https://ensembleproton.ch


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