Wittener Tage: Ins Freie und zu Ende gebracht
Die Wittener Tage für neue Kammermusik im Abschiedsjahr des Festivalleiters – und mit gelungenen Schweizer Beiträgen von Lilian Beidler, Daniel Ott und Beat Furrer.
Witten ist nicht schön. Witten zeigt das typische Erscheinungsbild einer im Zweiten Weltkrieg stark zerstörten Ruhrgebiets-Stadt. Schneller Wiederaufbau hiess es in den Fünfzigerjahren. Ohne ästhetische oder stadtplanerische Rücksicht pflanzte man eine schmucklos-gerade Fussgängerzone ins Zentrum, drum herum Neubauten und halt diverse Industriehallen. Aber trotz aller Tristesse: Man findet sie, die kleinen Oasen, in diesem Städtchen mit etwa 100 000 Einwohnern. Dazu gehört ganz bestimmt der Wittener Schwesternpark. Seit Beginn des 20. Jahrhunderts bot dieser verwunschene Park Krankenschwestern Entspannung, auch ein Stück Heimat. Hier konnten sie flanieren auf verschlungenen Wegen, sich auf die Wiesen legen, Fangen spielen, lachen, einfach Spass haben.
Schon im letzten Jahr standen Klanginstallationen im Schwesternpark auf dem Programm der Wittener Tage für neue Kammermusik. Es waren Lockdown-Zeiten und die sicher gut gemeinte Radioübertragung inklusive Moderation konnte nur einen schalen Eindruck von dem vermitteln, was diesmal in aller Pracht sich entfaltet: Da sind die Musiker, die sich in Daniel Otts Raum-Interventionen Schwesternpark Fragmente frei durch den Park bewegen. Sie spielen sich scheinbar die Bälle zu, lassen dabei der Stille Raum und treten manchmal in Kontakt mit im Park verstreuten Vokalisten.
Stimmen aus der Unterwelt
Otts Kollegin, Lilian Beidler, ebenfalls aus der Schweiz, zeigt im Schwesternpark ihre besondere Arbeit namens Lustwurzeln und Traumrinden. Wie aus dem Nichts hört das Publikum bei bestem Sonnenwetter allerhand Insektenlaute. Sicher könnten diese auch live aus der Natur kommen. Als jedoch ein weibliches Lachen und Kichern zu hören ist, wird man skeptisch. In der Tat kommen die Stimmen und Geräusche aus der Erde, wo Beidler ihre Lautsprecher unter einer Torfschicht versteckt hat. Die 1982 in Bern Geborene stellt sich offenbar vor, wie die Schwestern im Park ihren Spass hatten. Das hat aber nicht nur eine humorige, sondern auch eine geheimnisvolle Note. Irgendwann taucht mal ein tieferes «Buhu» aus den Lautsprechern auf: Ja, Stimmen aus der Unterwelt.
Altmeister zum Abschied
Es ist ein besonderer «Wittener Jahrgang». 33 Jahre lang leitete Harry Vogt das Festival. Er verlagerte viel in die freie Natur mit manchmal sensationellem Erfolg, etwa Manos Tsangaris’ «Hörfilm» Schwalbe, wo Musiker auf einem Ausflugsschiff auf der Ruhr spielten. Vogt betont, dass er das – in Kammermusik eingeschriebene – Thema «Dialoge» ausweiten wollte: hin zu Dialogen mit der Natur, aber auch hin zu einem verstärkten Dialog mit Interpreten, der sich als besonders fruchtbar erwies. Sehr gute Musiker, die Nähe zur Musik, auch eine gewisse (und berechtigte) Skepsis gegenüber manchen Moden waren Markenzeichen des verdienten Festivalleiters, der sich nun verabschiedet.
Jahrelang musste Vogt sich offenbar gedulden bis zu der mit grosser Spannung erwarteten Uraufführung des Trios des mittlerweile 86-jährigen Helmut Lachenmann. Nun spielen die drei unfassbar versierten Streicherinnen des Trio Recherche also endlich das Streichtrio Nr. 2. Seinem ästhetischen Credo, der Definition von «Schönheit als Verweigerung», bleibt Lachenmann treu. Oft tonlos bestreichen die Musikerinnen die Saiten vorsichtigst mit dem Holz. Aus dem kaum vernehmbaren – dafür umso intensiveren – rauschenden Pianissimo kommen urplötzlich laute Attacken in Form von sich überschlagenden, dichten, kaum mehr zu entwirrenden Linien. Aufsehen erregend, wie frisch und dramaturgisch perfekt der «Altmeister Lachenmann» noch klingt!
Ein steter, immer wiederkehrender Wittener Gast ist der 1954 in Schaffhausen geborene Beat Furrer. Ideen zu seinem Trio kursieren offenbar – so Furrer im Programmbuch – auch schon zwanzig Jahre. Nun heisst es schlicht in’s Offene und ist dem Trio Accanto mit Markus Weiss (Saxofon), Nicolas Hodges (Klavier) und Christian Dierstein (Schlagzeug) auf den Leib geschrieben. Vom einfachen Unisono geht Furrer aus. Zunehmend entfernen sich die Partien voneinander bis hin zu einer fulminanten, fast autistisch anmutenden Virtuosität insbesondere des Saxofons. Virtuos ist auch das kompositorische Handwerk. Furrer fängt das sich zerfransende Trio immer wieder ein. Am Ende klingt es nach all den Entfernungen vielleicht nicht schön, aber schlüssig – und gibt diesem fantastischen Wittener Abschiedsjahrgang eine weitere, ganz besondere Note.