Auf den Spuren eines Scharfrichters
Die Frage nach Schuld und Sühne ist so alt wie die Menschheit. Was darf ein Mensch tun und was nicht? Und wie soll er bestraft werden, wenn er tut, was er nicht tun darf? Solchen Fragen spürt der szenische Gang «Baltz Mengis» durch die Luzerner Altstadt nach.
Wenn wir uns heute in unseren bequemen Fernsehsesseln selbstgerecht über Völker empören, die Übeltäter mit der Todesstrafe aus der Welt schaffen, so vergessen wir allzu leichtfertig, dass wir das bis vor Kurzem genau gleich gemacht haben. An Grausamkeit waren wir fast nicht zu überbieten. Es ist kulturgeschichtlich betrachtet erst ein paar Augenblicke her, dass der Scharfrichter Baltz Mengis im Auftrag der Luzerner Obrigkeit auf alle erdenklichen Arten Schuldeingeständnisse zu Tage folterte und mit dem Tod bestrafte. Die Möglichkeiten zur seriösen Aufklärung von Vergehen waren noch sehr bescheiden. Und wegen Schuld oder Unschuld von ein paar gspässigen Weibern oder kurligen Gesellen wollten die hohen Herren auch keinen grossen Aufwand betreiben. Aber für die Aufrechterhaltung von Recht und Ordnung (oder von Macht und Pfründen?) brauchten sie publikumswirksame Hinrichtungen. Auch dafür war Baltz Mengis zuständig und bezahlte selbst einen hohen Preis. Der Scharfrichter war zu einem Leben ausserhalb der Gesellschaft verdammt.
Die Schauplätze sind unverändert
Die Gebäude, in denen diese Schrecken stattfanden, stehen noch genauso in der Altstadt, wie vor dreihundert Jahren. Über die Plätze, auf denen die Beschuldigten öffentlich gepeinigt und gedemütigt wurden, spazieren wir heute vergnügt mit einem Glacé in der Hand. Und die Macht und die Vermögen, die damals auf brutale Weise verteidigt wurden, sind ebenfalls mehr oder weniger nahtlos in die Gegenwart übergegangen. Sie sind Teil unseres heutigen Wohlstandes. Eine Art respektvolles Andenken an die unzähligen Gefolterten und Hingerichteten in Luzern bietet der «theatrale KlangGang durch die Eingeweide des 17. Jahrhunderts».
Er beginnt im Historischen Museum, wo eine Gerichtsverhandlung eröffnet wird, die über Schuld oder Unschuld von Baltz Mengis, dem letzten Scharfrichter der Stadt, befinden soll. Als er zu seinem Wirken befragt wird, fährt es einem durch Mark und Bein, auch ganz ohne Folter. Aber die Fragen führen auf emotionales Glatteis: Ist er ein verachtenswerter Schlächter oder ein bedauernswertes Opfer der skrupellosen Obrigkeit?
Eine melancholische Melodie begleitet uns über die Spreuerbrücke, über die der Angeklagte jeden Tag die Stadt betreten und wieder verlassen hat. In den Giebelfeldern hängen die gleichen Bilder wie damals und zeigen, was gut und recht und wer wieviel wert ist. In Gedanken darüber verschwinden wir in den Gassen und folgen dem Scharfrichter an seine Arbeitsstätten. Immer weiter locken uns die geheimnisvollen Klänge um Hausecken, über dunkle Treppen und in Hinterhöfe. Immer tiefer hinein in die Eingeweide der Altstadt, der Geschichte und unseres eigenen Gewissens. Das eindrückliche Schauspiel und die tief berührende Musik lassen die damalige Welt auferstehen. Und immer stärker breitet sich ein beklemmendes Gefühl aus, weil uns bewusst wird, was sich auf diesen Pflastersteinen abgespielt hat.
Multimediales Gedenken
Zum Schluss begeben wir uns in die Peterskapelle, im Gedenken an die vielen Frauen und Männer, die diesen Weg unter unvorstellbaren Schrecken vor uns gegangen sind. Musik, Schauspiel und Videoprojektion verschmelzen dort zu einem eindrücklichen Gesamtkunstwerk. Anna Murphy fesselt uns mit ihrer Drehleier und ihrer magischen Stimme und Thomas K. J. Meyer greift mit einem Saxofon, das grösser ist als er selbst, direkt in unsere Eingeweide. John Wolf Brennan hat dieses Oratorium komponiert und verwebt alles mit verschiedenen Tasteninstrumenten zu einer eindringlichen Klangwelt.
Franziska Senn, Reto Baumgartner und Finn Krummenacher verkörpern ihre Figuren sehr greifbar und eindringlich und meistern fliegende Rollenwechsel verblüffend. Mit minimalen Mitteln wandeln sie sich von der Anklägerin zur Angeklagten oder vom Henker zum Wundarzt. Die grandiose Videoproduktion von Susanne Hofer kann ihre Kraft leider nicht vollständig entfalten, da sie durch die Architektur der Peterskapelle etwas beeinträchtigt wird. Trotzdem trägt sie viel zum eindrücklichen Erlebnis bei. Für Idee, Konzept und Text zeichnen Ueli Blum und Dunja Bulinsky, für die Regie Buschi Luginbühl und für die Choreografie Mariana Coviello. Ein grosses Team aus kreativen Helfern hat sie bei der Umsetzung unterstützt.