Stefan Wirths Oper: Bühne als Gemälde
Das Opernhaus Zürich zeigt die erste Oper des Schweizer Pianisten und Komponisten Stefan Wirth.
Eigentlich sollte Stefan Wirths Opernerstling schon vor zwei Jahren auf die Bühne kommen, aber der Ausbruch der Pandemie verhinderte die für Mai 2020 geplante Uraufführung. Inzwischen ist viel passiert. Corona hat den Musikbetrieb phasenweise zum Stillstand gebracht. Der Krieg in der Ukraine erschüttert Europa in seinen Grundfesten. Von der Kunst erwartet man in diesen Krisenzeiten vielleicht nicht unbedingt aktuellen Gesellschaftsbezug, aber doch Relevanz. Die neue, dreiaktige Oper Girl with a Pearl Earring, die es auf die grosse Bühne des Zürcher Opernhauses geschafft hat, wirkt 2022 ein wenig aus der Zeit gefallen. Der undramatische Stoff, der auf Tracy Chevaliers gleichnamigen Roman aus dem Jahr 1999 zurückgeht – inspiriert von Jan Vermeers bekanntem Porträt Mädchen mit dem Perlenohrgehänge (1665) –, wird spannungsarm erzählt (englisches Libretto: Philip Littell). Selbst die bedrückende Atmosphäre und die problematischen Machtverhältnisse im Hause Vermeer, die beispielsweise in der Verfilmung des Stoffes von Peter Webber zu erleben sind, spürt man kaum in der musikalischen Umsetzung von Stefan Wirth, so dass der rund zweistündige Abend auf Dauer zu langatmig gerät. Und sich im Kreis bewegt wie die Drehbühne von Andrew Lieberman.
Tracy Chevalier hat dem porträtierten Mädchen eine Geschichte und einen Namen gegeben. Griet kommt als Dienstmagd in das herrschaftliche Haus, das von Vermeers Schwiegermutter und Hausherrin Maria Thins dominiert wird. Catharina Vermeer ist schwanger, schlecht gelaunt und auf die junge Frau eifersüchtig. Griet hilft dem zurückgezogenen, unter Erfolgsdruck stehenden Maler beim Farbenmischen und steht ihm am Ende Modell für das Bild, auf dem sie die Perlenohrringe von Vermeers Frau trägt. Die Autorin erzählt die Geschichte ganz aus Griets Sicht. Und der Komponist übernimmt diese Perspektive. Die junge amerikanische Sopranistin Lauren Snouffer steht fast ununterbrochen auf der Bühne. Mit ihrem glasklaren, beweglichen, höhensicheren Sopran ist diese Griet von Beginn an eine Sympathiefigur. Die Kantilenen, die Wirth für sie geschrieben hat, füllt sie mit Wärme.
Klangstrom in spartanischer Inszenierung
Melos findet sich fast nur in den Gesangsstimmen. Stefan Wirth verwendet eine grosse Sinfonieorchesterbesetzung ohne Elektronik, die er mit vielfältigem Schlagzeug, zwei Harfen, Klavier, Cembalo und Celesta anreichert. Auch Geräusche finden grossen Raum, wenn Papier knistert, Griet zu Beginn das Messer wetzt, die Streicher mit dem Holz des Bogens spielen oder in den Bläsern Zischlaute zu hören sind. Es ist auch das Orchester, in dem der kontinuierliche Erzählstrom beginnt, der keine Pausen kennt. Ähnlich wie Alban Bergs Verwandlungsmusiken verbinden die Orchesterzwischenspiele die Szenen miteinander, auch wenn Wirths Musik nur in seltenen Fällen ähnliche Plastizität entfaltet. Instrumentale Effekte wie in tiefer Lage attackierende Kontrabässe wiederholen sich. Die kleinteilige, komplexe, teilweise polyrhythmisch konstruierte Musik ist von Wirth handwerklich sauber gesetzt und nimmt Rücksicht auf die Textverständlichkeit. Hier spürt man den Theatermusiker, der schon mit Frank Castorf und Christoph Marthaler zusammengearbeitet hat. Aber Wirths flächige Klänge bleiben meist unnahbar. Es fehlt ein Puls, es fehlt auch an klanglicher Raffinesse und aufregenden Farbmischungen. An der Philharmonia Zürich und dem klar strukturierenden Dirigenten Peter Rundel liegt es jedenfalls am stark beklatschten Premierenabend nicht, dass im Orchestergraben kein echter Sog entstehen will.
Auch Ted Huffmans spartanische, insgesamt fantasiearme Inszenierung hilft der Musik wenig. Farbige Historizität ist nur in den Kostümen von Annemarie Woods zu erleben. Ansonsten dominiert auf der meist leeren Bühne eine kühle Schwarz-Weiss-Ästhetik, in der die Geschichte konventionell erzählt wird. Manche Szenen friert der Regisseur zu Standbildern ein, so dass die Bühne für einen Moment selbst zum Gemälde wird. Szenische Zuspitzungen wie der Vergewaltigungsversuch durch den Mäzen Van Ruijven (Iain Milne) bringen kaum Spannung. Man ahnt immer schon, was kommt. Auch Thomas Hampson gelingt es nicht, als Jan Vermeer in diesem sich immer wieder drehenden Setting mit seinem lyrischen Bariton ein klares Profil zu entwickeln. Vermeers Verhältnis zu seiner Gattin Catharina (präsent: Laura Aikin) ist ebenso konturenarm. Und auch Liliana Nikiteanu als Maria Thins bleibt farblos. Irène Friedli ist in der Rolle von Tanneke ein patentes Hausmädchen mit klarer Ansage, Yannick Debus gibt Griets Metzgersfreund Pieter mit der notwendigen Schlichtheit, Lisa Tatin singt die piesackenden Kinder mit kristallinem, koloratursicherem Sopran. Am Ende bleibt Griet allein mit den Perlenohrringen zurück, die sie verkaufen möchte. Glück haben sie ihr nicht gebracht. Und wer diese junge Frau ist, weiss man auch nach zwei Stunden nicht so genau.
Vorstellungen noch bis am 8. Mai 2022