Von der Angst und der menschlichen Wärme – Poulencs «Dialogues des Carmélites»
Nach achtzehn Jahren kehrt Francis Poulencs bewegende und auch befremdende Oper ans Zürcher Opernhaus zurück. Die Aufführung unterstreicht die im Titel stehenden «Dialoge» und zeigt Erbarmen mit Bühnenfiguren und Publikum.
Von den vielen grossen Opern des 20. Jahrhunderts ist sie eine der exzeptionellsten, eine, die beim Erlebnis, zumindest bei mir, höchst widersprüchliche Gefühle hervorruft: So anziehend ist sie wie abstossend und befremdlich. Francis Poulencs Dialogues des Carmélites, uraufgeführt 1957, also mitten in der Hochblüte der Darmstädter Avantgarde, steht musikalisch ausserhalb ihrer Epoche. Sie ist tonal, kantabel, klar gebaut, zauberhaft orchestriert, ja sogar einschmeichelnd und eingängig, sie ist leicht und auf mozartsche Weise beweglich – und doch kann sie sich momentweise sehr abrupt verhärten. Sie stammt von einem Filou, einem Causeur und Charmeur, der gleichzeitig zum Mönchischen neigte und tiefreligiös war.
Dieses Werk ist nicht nur eine Oper ohne Liebes- und Kampfszenen, also ohne die grossen Theatergefühle, sondern tatsächlich, wie der Titel andeutet, eine Dialogoper. Der Text von Georges Bernanos ist geschliffen scharf wie ein Messer und dabei ideologisch gefärbt: «Schwärzester Katholizismus», wie ein Kollege einmal sagte, aus einer Zeit des militanten Antikommunismus. Er verherrlicht die katholische Kirche und restituiert sie durch das Martyrium, es macht Aufklärung rückgängig. Man bedenkt das die ganze Oper hindurch mit und wird doch zutiefst in den Konflikt, ja den Abgrund hineingezogen.
Das Publikum leidet mit
Das liegt nicht nur an der historisch verbürgten Geschichte, dass die Karmeliterinnen von Compiègne von den Jakobinern unterdrückt, gefangengenommen, verurteilt und hingerichtet wurden. Dahinter leuchtet in dieser Version eine sehr menschliche Seite auf: das Mitleiden, das sich auf den Zuhörer überträgt. Ausgehend von der wahren Begebenheit von 1794 hatte die deutsche Schriftstellerin Gertrud von Le Fort 1931 ihre Novelle Die Letzte am Schafott geschrieben und dabei eine fiktive Person hinzugefügt: die junge Adlige Blanche de la Force, die als Sœur Blanche de l’Agonie du Christ in den Karmel eintritt und in diese Ereignisse hineingezogen wird. Force und Agonie (die Namen sprechen!), Kraft und Todesangst, sind bestimmend für die Handlung. Blanche ist auf der Flucht, auf Weltflucht, sie ist von panischer Angst getrieben und findet eine Sicherheit in der Strenge des Ordens.
Darum geht es in dieser Oper zunächst, dafür fand Poulenc eine ebenso einfache und wie unmittelbar aufwühlende Tonsprache. Und hier steckt auch die Stärke der neuen Zürcher Inszenierung, achtzehn Jahre nach der starken Aufführung in der Regie von Reto Nickler. Die niederländische Regisseurin Jetske Mijnssen setzt genau da an. Sie aktualisiert nichts äusserlich, belässt die Kostüme (Gideon Davey) im späten 18. Jahrhundert, setzt alles in ein hohes, meist karges, für die jeweiligen Szenen wandelbares Bühnenbild (Ben Baur) und fügt, abgesehen von einer erzählerischen Tanzeinlage zu Beginn, keinen Zierrat bei. Wichtiger sind die langen, distanzierenden Tische, an denen Gespräche stattfinden, und die vielen Stühle, mal unordentlich, mal geordnet im Raum postiert, schliesslich umgestossen. Es schafft eine beklemmende Atmosphäre, und darin versteht Mijnssen die Personen überzeugend zu führen, allen voran die in ihrer gesanglichen und darstellerischen Expressivität subtile Blanche von Olga Kulchynska.
Die Nonnen bleiben Individuen
Darum herum findet sich der heterogene Kreis der Nonnen, die allesamt starke Individualitäten (und Sängerinnen) sind: die mütterliche, etwas pathetische Priorin (Inga Kalna), die strenge, zum Äussersten entschlossene Mère Marie (Alice Coote), die junge, liebliche, zu Visionen neigende Constance (Sandra Hamaoui) und die ängstliche Jeanne (Liliana Nikiteanu). Und da ist die erste Priorin, die im ersten Akt stirbt, auf geradezu unwürdige Weise voller Todesangst und Verzweiflung, eindringlich dargestellt von Evelyn Herlitzius. Es sind keine Glaubensmaschinen, die uns da entgegentreten, sondern verletzliche, verunsicherte und unterschiedlich reagierende Menschen. Und das ist es schliesslich, was der Aufführung eine einnehmende menschliche Wärme verleiht, etwas, das auch das Orchester, die Philharmonia Zürich unter der Leitung von Tito Ceccherini, ausstrahlt: Kompaktheit und Klarheit, farbenreich, nie ins Extrem gehend. Diese Wärme, die die Frauen bei aller klösterlichen Strenge untereinander finden, lässt die Angst umso deutlicher hervortreten. Mijnssen arbeitet hier auf eindrückliche Weise mit der Körpersprache.
Gnädige Inszenierung
Bleibt die berühmte Schlussszene, die weit mehr als ein Opernfinale ist. Ähnlich wie das letzte Bild in Bernd Alois Zimmermanns Die Soldaten, wo sich die Zeiten übereinanderblenden und zu einem Gesamtbild des Kriegs zusammenschiessen, übersteigert sich hier das persönliche Schicksal der Frauen in einem Massaker, und es stellt eigentlich jede Regie vor ein unlösbares Problem. Wie den Tod zeigen? Die Nonnen sterben nacheinander auf dem Schafott. Untermalt von einem unruhigen Puls, der bei Poulenc häufig erscheint, wenn es um den Tod geht, singen sie das Salve Regina. Mit jedem hörbaren Heruntersausen der Guillotine verstummt eine Stimme, bis nur noch eine einzige übrig bleibt, jene der Blanche, die sich zum Martyrium entschieden hat.
Dieser Schluss ist eine Stärke, aber auch eine Schwäche des Stücks, weil er theatral so extrem eindrucksvoll ist und dabei den Rest der Oper auszulöschen droht. Das menschliche Miteinander, das Dialogisieren in einem weiteren Sinn, das das Werk bis dorthin prägt, geht in ein Tötungsritual, in ein kollektives Sterben über. Man kann sich vorstellen, wie schmerzhaft es für den Komponisten gewesen sein mag, seine Geschöpfe sterben zu lassen und die harten Schneidgeräusche des Fallbeils in den sanften und doch starken Frauengesang hineinzusetzen: unerbittlich, realistisch unregelmässig und musikalisch «sinnvoll». Da erreichen Kunst und Können die Grenze zur Grausamkeit.
In der Zürcher Inszenierung nun wird gerade das abgemildert. Die Schlussszene löscht nichts aus, sondern fügt sich sogar folgerichtig in den Abend ein, wenn er dabei auch an Härte verliert, so als habe man Mitleid mit dem Komponisten und seinen Geschöpfen. Die Guillotine ist akustisch nicht vordringlich, sondern bleibt fast im Hintergrund. Als Zeichen des Sterbens senken die Frauen nur den Kopf. Die Szene verliert so ihren Schrecken. Mijnssen beharrt auf der Individualität der Nonnen, im Tod streicht jede noch ihren Namen von einer Wand und verlässt die Bühne gesenkten Haupts. Das ist gnädig, mit den Figuren und mit uns, und verschleiert doch ein wenig die Inkommensurabilität dieser ungeheuerlichen Oper.
noch bis 5. März 2022