Alte Reithalle Aarau: Das Orchester auf der Stuhlkante
Das Argovia Philharmonic ist Residenzorchester in der zum Kulturraum umgebauten Alten Reithalle in Aarau. Am 29. Oktober wurde der Konzertsaal eingeweiht.
«Bald», frohlockt die Besucherin, als sie die Alte Reithalle in Aarau erblickt. «Bald» verheisst für sie in dem neuen Mehrspartenhaus für Musik, Theater, Tanz und modernen Zirkus besonders orchestrales Glück. Hierher wird das Argovia Philharmonic, 58 Jahre nach seiner Gründung, als Residenzorchester einziehen – und den 2000 Quadratmeter grossen, flexibel nutzbaren Raum mit der Bühne Aarau teilen. Dieser Ort lebt von seiner Vergangenheit als Reithalle für das Dragonerregiment der Aarauer Armeegarnison, worauf die Architekten Barão-Hutter mit dem Belassen des ungeschönten Gemäuers und Dachgebälks anspielen. Über die von Martin Lachmann verantwortete Akustik hat die Besucherin schon viel Gutes gehört, umso mehr ersehnt sie das Eröffnungskonzert: «Neue Bahnen» verspricht das erste Programm und bietet Ludwig van Beethovens 1. Klavierkonzert mit dem Aargauer Pianisten Oliver Schnyder, Johannes Brahms’ 1. Sinfonie und Daniel Schnyders Argovia. Symphonie Nr. 5 «Pastorale», eine Auftragskomposition des Orchesters, die in der Alten Reithalle uraufgeführt wird.
Dies alles im Kopf steuert die Besucherin die Geschäftsstelle des Argovia Philharmonic an. Hier ist der neue Intendant Simon Müller zu Hause, der nach einer bewegten Saison 2020/21 die künstlerische Zukunft des Orchesters mit dem Chefdirigenten Rune Bergmann gestaltet. Der Norweger hatte seinen Einstand mitten in der Pandemie, im Herbst 2020, gegeben. Danach ging erst einmal nichts mehr.
Von Asien bis Zofingen
Weil es den Kontakt zum Publikum nicht verlieren wollte, streamte das Argovia Philharmonic in dieser Zeit erstmals drei Konzerte – mit Erfolg. «Diese Ergänzung zum normalen Orchesterbetrieb will auch künftig gut geplant sein», sagt Simon Müller und spricht an, was angedacht ist: Streaming von Konzerten in Asien. «Rune Bergmann hat eine Vision: Er will mit dem Argovia Philharmonic in die Welt hinaus, weil er in diesem Orchester sehr viel Potenzial sieht. In diesem Zusammenhang wird das Marketing eine wichtige Rolle spielen. Aber natürlich wollen wir uns in erster Linie noch stärker als bis anhin in der Schweiz positionieren», betont der Intendant: «Wir sind seit Kurzem auch Mitglied im Orchesterverband, obwohl wir ein Projektorchester sind.» Simon Müller bringt es so auf den Punkt: «Das Argovia Philharmonic ist für mich das Orchester auf der Stuhlkante», will heissen: «Anders als die Sinfonieorchester mit Jahresverträgen, ist für das Argovia Philharmonic auch Beethovens fünfte Sinfonie keine Routine.»
Mit dem Einzug in der Alten Reithalle erhält das Orchester nun eine akustisch vorzügliche Heimat, in der pro Jahr 40 Tage für fünf Abonnementszyklen eingeplant sind; dazu kommen Spezialanlässe und Kammerkonzerte. Anders als bei den Sinfoniekonzerten mit rechteckigem Zuschauerraum und ansteigender Tribüne sitzt das Publikum bei diesen intimen Veranstaltungen an den Seiten einer kleinen Arena. «Einmal mehr zählt das Gesamterlebnis – die unmittelbare Nähe zum Publikum», sagt Müller dazu. Diese Nähe sucht das Orchester auch bei seinen Abstechern nach Beinwil am See, Villmergen, Zofingen, Rheinfelden sowie Baden.
Baden ist sozusagen die zweite Heimat des Orchesters. Während 20 Jahren hat das Argovia Philharmonic im Trafo-Saal gespielt – in Nachbarschaft zu grossen Kinos. Nun wird es ins Kurtheater umziehen, das dank einer ebenso fachkundigen wie sensiblen Renovierung und Erweiterung ein Juwel geworden ist. Ein genuiner Konzertsaal ist der Theaterraum zwar nicht, aber dank der neuen Akustikmuschel auf der Bühne dürfte das Konzerterlebnis erfreulich sein. Die bisherigen Veranstaltungen anderer Orchester in diesem schmucken Theater haben jedenfalls gezeigt: Dies- und jenseits der Rampe herrscht jene knisternde Spannung, die zu einem Konzert gehört. Das Argovia Philharmonic hat also viel vor in der Saison 2021/22, an deren Ende es Aufnahmen auf CD herausbringen wird. Welche? «Die vier Brahms-Sinfonien, die wir zuvor in unseren Konzerten mitgeschnitten haben», sagt Simon Müller. Das Eröffnungskonzert wird von Radio SRF2 am 9. Dezember übertragen.
Warmer, klarer Klang ohne Schärfe
Dann ist es soweit: Die Besucherin sitzt erstmals im neuen Konzertsaal in der Alten Reithalle. Er ist durch eine schiefergraue Wand vom Theaterraum getrennt, verfügt über viele Parkettreihen und eine Tribüne, die beste Sicht garantiert. Doch wie klingt der Saal? Wunderbar! Als die ersten Takte mit Alphorn und Orchester von Daniel Schnyders viele Musikstile witzig mischender Argovia-Sinfonie erklingen, traut man seinen Ohren nicht: kein Verschwimmen im Nachhall; das Klangbild ist warm und dazu von einer Transparenz, die nichts mit der analytischen Schärfe anderer moderner Konzertsäle zu tun hat. Natürlich werden Chefdirigent Rune Bergmann und das Aargauer Ensemble noch manches justieren, doch an der Eröffnung zeigt sich, was mit dem «Orchester auf der Stuhlkante» gemeint ist. Für das Argovia Philharmonic ist nichts selbstverständlich. Deshalb packt es alles aus, was es seit jeher kann, was aber jetzt so richtig leuchten kann: Streicherglanz, exzellente Bläsersoli und ein ganz eigenes, aufmerksames Aufeinander-Hören. Dass Oliver Schnyder das Tüpfelchen auf dem i der Eröffnung ist, verwundert nicht. Seine Interpretation von Beethovens Klavierkonzert Nr. 1 auf einem Bösendorfer federt förmlich in den schnellen, fein austarierten Ecksätzen und ist im Largo von einer Innigkeit, die man liebend gerne konservieren möchte. Kurz: Mit dem Einstand in der Alten Reithalle Aarau meldet sich das Argovia Philharmonic nachdrücklich in der Schweizer Orchesterlandschaft.