Neues vom Goldstandard – Streichquartett-Uraufführungen
Cécile Marti und Verena K. Weinmann präsentierten jüngst in ganz unterschiedlichem Rahmen neue Werke für Streichquartett. Dabei erwiesen sie sich auch als ganz unterschiedliche Komponistenpersönlichkeiten.
Streichquartette sind noch immer der Goldstandard ambitionierten Komponierens. Da ist es erfreulich, dass innerhalb zweier Wochen gleich zwei neue Gattungsbeiträge von Schweizer Komponistinnen uraufgeführt wurden. Es wird also noch immer nach den höchsten Lorbeeren gegriffen. Dabei spielt es auch keine Rolle, dass es sich bei beiden Werken nicht um Quartette im engeren Sinne handelt, sondern einfach um Stücke für Streichquartett. Präsentiert wurden sie an Quartettabenden höchster Ansprüche.
Weinmanns «agobio» und die Wut
Besonders die 1994 geborene Verena K. Weinmann fand sich in Respekt einflössender Umgebung wieder. Klangundszene lud im Zürcher Kunsthaus unter dem Motto «Freiheit über alles» am 25. und 26. September zu vier Konzerten ein, die jeweils ein spätes Beethoven-Streichquartett mit einem aus dem 20. Jahrhundert kombinierten – und am Samstagabend noch mit einer Uraufführung. So kam es, dass Weinmanns agobio als Auftakt zu Schostakowitschs 8. und Beethovens cis-Moll-Quartett op. 131 fungierte. Wohlgemerkt, nachdem am Nachmittag bereits Beethovens op. 95 und Schönbergs fis-Moll-Quartett op. 10 erklungen waren. Allesamt legendäre Werke, die mythenberankt durch die Musikgeschichtsschreibung geistern. Und als wäre das nicht genug, ist agobio für Stimme und Streichquartett gesetzt und stellt sich damit direkt in die Nachfolge von Schönbergs op. 10. Eines Werks, in dem dieser nicht nur erstmals heftig an den Grenzen der Tonalität gerüttelt, sondern mit der Hinzufügung einer Singstimme auch gleich noch die Gattungsnorm gesprengt hatte. Wenige Stunden zuvor war es von der Sopranistin Anna Gschwend gemeinsam mit dem Arditti Quartett atemberaubend aufgeführt worden. Eine, nebenbei bemerkt, umso erstaunlichere Leistung, als die Ardittis kurzfristig eingesprungen waren und lediglich eine Probe mit Anna Gschwend zur Verfügung hatten.
Dieser schwierigen Ausgangslage begegnete die in Barcelona wohnende und studierende Komponistin erstaunlich furchtlos und stellte den in extreme Ausdrucksregionen vorstossenden Werken ihrer Vorgänger eine engagierte und kämpferische Musik entgegen. «Agobio» bedeutet Überlastung, Überforderung, und Weinmann, die sich auf ihrer Website auch als Aktivistin bezeichnet, reagiert auf die im Gedicht von Ana Martinez Quijano beschriebenen Gefühle angriffig. Im Programmheft schreibt sie von Wut.
Die Streicher spielen meist «Übergänge»: solche zwischen verschiedenen Spieltechniken auf einer Tonhöhe oder solche zwischen den Tonhöhen, also Glissandi. Das Ergebnis ist eine stete Unruhe und Klänge, deren hervorstechendste Eigenschaft eine Signalwirkung ist. Zu dieser Musik in Alarmbereitschaft wird der Text vorwiegend deklamiert, auch wenn die Übergänge zwischen den vielen verschiedenen Ausdrucksspektren der Stimme wiederum fliessend sind. Zusätzliche gesprochene Einwürfe der Instrumentalisten erwecken den Eindruck, einer Selbstbeschwörung beizuwohnen, die sich in ihrem Verlauf immer mehr steigert, ohne je aufgelöst zu werden. Ein eindringliches Stück, das vom noch jungen Nerida-Quartett und wiederum Anna Gschwend beeindruckend umgesetzt wurde.
Martis «Ellipse» und die Form
Von gänzlich anderem Temperament zeigte sich Cécile Marti in Ellipse für Streichquartett, und das gilt auch für die Veranstaltung, in der ihr neues Stück präsentiert wurde. Ellipse ist als Auftragskomposition des Othmar-Schoeck-Festivals (OSF) in Brunnen entstanden und wurde dort am 11. September im Rahmen eines Konzertes mit Werken von Arthur Honegger, Richard Flury und selbstverständlich Othmar Schoeck uraufgeführt.
Während sich also Verena K. Weinmann inmitten von ehemaligen Neutönern zu behaupten hatte, erklang Martis Stück zwischen drei Schweizer Komponisten, welche nie als Speerspitze der Avantgarde fungierten. Selbstverständlich gilt Honegger heute als Klassiker der Moderne, aber seine Modernität war eher die des frechen Pluralisten. Und während Richard Flury zumindest in manchen Werken an den Grenzen der Tonalität kratzte, blieb Schoeck zeitlebens ein Spätromantiker durch und durch.
Interessanterweise entpuppte sich mit Flurys 1. Streichquartett das Werk des jüngsten dieser drei innerhalb von 15 Jahren geborenen Komponisten als spätromantische Massenware, während die Quartette der andern beiden, jeweils ihr zweites, begeisterten. Das Belenus-Quartett bewies dabei einmal mehr, zu welch tollem Ensemble es sich in den letzten Jahren entwickelt hat. Besonders bei Schoeck führte es einem mit seiner mitreissenden Darbietung vor Augen, weshalb viele Komponisten aus dieser Generation, die früher als rückständig verschrien wurden, heute ein Revival erleben.
Für die feinen Klänge von Martis Ellipse jedenfalls war die Anordnung ein Glücksfall. Denn wo Weinmann auf die unmittelbare Wirkung von Klang setzt, vertraut die auch als Bildhauerin tätige Marti auf die Wirkung sorgfältig gestalteter Formprozesse und machte dies mit der Wahl des Titels unmissverständlich klar. Eine Bildprojektion, in der aus einem unbehauenen Stein eine Skulptur wurde, unterstrich dieses Interesse an Form im allgemeinsten Sinn. Es ist denn auch kein Werk, das einen unmittelbar packt. Vielmehr lädt es ein, seinem Verlauf zu folgen. Zu entdecken, wie das einfache Motiv durch die Instrumente und die Zeit wandert. Wie es und die ganze Musik immer wiederkehrt, dabei verlangsamt und wieder beschleunigt, gestaucht und gedehnt wird.
Eine Reise, die man danach gerne nochmals unternehmen würde. Besonders, weil die zuvor stete Präsenz des einfachen Motivs erst mit seinem prominenten Auftritt am Schluss von Ellipse so richtig bewusst wird. Beim zweiten Mal wäre man bestimmt achtsamer …
Ein Projekt für 2022 ist in Vorbereitung
https://schoeckfestival.ch
Das nächste Festival findet vom 9. bis 11. September 2022 in Brunnen statt.
«Drama und Oper»