Chorkultur historisch und geografisch
Die Schweizer Chorszene ist nicht über einen Kamm zu scheren – das hat eine Konferenz an der Universität Bern am 17. und 18. September bestätigt.
Die Tagung «Chorleben in der Schweiz» schaffte, was selten genug ist: Sie brachte Fachleute aus der West- und der Deutschschweiz in ausgeglichenem Mass zusammen. Damit ermöglichte sie einen hochinteressanten Austausch über die Differenzen der Chorkultur der Landesteile, die rätoromanische Schweiz eingeschlossen. Etwas zu kurz kam bloss die italienische Schweiz. Vermutlich war die geglückte Überbrückung des Röschtigrabens dem Umstand zu verdanken, dass die polyglotte Tagungsleiterin, die brasilianische Musikwissenschaftlerin Caiti Hauck, in der Westschweiz zu Hause ist. Sie forscht in Bern und ist dabei der Geschichte je eines Chores aus der Deutschschweiz (Berner Liedertafel) und der Romandie (Société de Chant de la Ville de Fribourg) nachgegangen.
Ergänzt wurde die Schweizer Vogelschau mit Berichten aus der deutschen Chortradition, vertreten durch Friedhelm Brusniak. Der Würzburger Pädagogik-Professor hat für die Aufarbeitung der Geschichte der volkstümlichen Vokalmusik in Deutschland Pionierarbeit geleistet. Die vielfältigen, auch – vor allem mit Blick auf das Schaffen Othmar Schoecks – problematischen Vernetzungen der Schweiz mit dem monarchistischen und nationalsozialistischen nördlichen Nachbarn wurden dabei keineswegs ausgeklammert. Letztere zeichnete der Strassburger Kirchenmusik-Spezialist Beat Föllmi nach.
Mit grossem Interesse folgte man etwa den Ausführungen der Musikwissenschaftlerin und Übersetzerin Irène Minder-Jeanneret zur Frühgeschichte der Société de musique de Genève. Diese war, wie man staunend zur Kenntnis nahm, 1823 nicht zuletzt aus touristischen Gründen ins Leben gerufen worden, erwarteten doch die Reisenden auf dem Weg ins Mont-Blanc-Gebiet in der Stadt Abendunterhaltungen.
Aurore Cala-Fontannaz, zurzeit Doktorandin an der Pariser Sorbonne, zeigte die Bedeutung des in der Deutschschweiz kaum bekannten Vokalkomponisten Louis Niedermeyer auf, der in Paris eine Gesangsschule begründete und die Kirchenmusik reformierte. Wie die Chortradition in der Westschweiz vom Katholizismus mitgeprägt ist, zeigten überdies die Ausführungen der Freiburger Historikerin Anne Philipona: Bei Begegnungen von Deutsch- und Westschweizer Chören Mitte des 19. Jahrhunderts prallten während des Sonderbundskriegs republikanische Gesinnungen und romtreuer Konservatismus aufeinander.
Diesseits und jenseits der Saane
Das Chorwesen in der Romandie wurde nicht zuletzt von ambitionierten Verbindungen aus Gesang und Theater beeinflusst. Dafür steht, wie die Freiburger Musikwissenschaftlerin Delphine Vincent aufzeigte, das Théâtre du Jorat, das etwas ausserhalb von Lausanne steht. Für die dort realisierten Bühnenwerke schrieben Gustave Doret, Arthur Honegger, Frank Martin und der heute kaum noch bekannte André-François Marescotti Musik und Chorpartien. Daneben belebte auch das gigantische Winzerfest von Vevey die Chorszene, zuletzt 2019, wo es traditionsgemäss mit rund 800 Sängern und Sängerinnen dem Ranz des vaches, dem «Blues der Alpen», Reverenz erwies. Eine Volksjury hatte dafür eine Gruppe von Tenören, darunter Bauern, Elektriker, Lehrer, Ingenieure oder Strassenmeister, zusammengestellt, die das «Lyoba» zelebrierten. Diese Hymne der Sennen sowie die Hymne à la Terre, einen von Blaise Hofmann eigens für das jüngste Fête des Vignerons geschriebenen Lobgesang, analysierte die Komponistin Noémie Favennec-Brun.
Konfessionelle Aspekte mögen eine Rolle spielen bei der Ausformung der sprachregionalen Gesangskulturen. In der Schlussdiskussion der West- und Deutschschweizer Chorvertreter zeigten sich deutliche Mentalitätsunterschiede – auch als Spiegel politischer Haltungen. Während in der Deutschschweiz die Repertoires mikrolokal sind und sich von Kanton zu Kanton, ja von Region zu Region unterscheiden, scheinen das gemeinsame Liedgut und die Ästhetik in der Westschweiz einheitlicher. Offenbar ist dort auch die Bereitschaft, das Repertoire mit anspruchsvollen neuen Kompositionen aus der Tradition der zeitgenössischen Kunstmusik zu beleben, deutlich grösser als in der Deutschschweiz. Östlich der Saane prägen mittlerweile Projektchöre mit grosser Stilvielfalt, von Pop über Gospel und Jazz bis zu Barber-Shop- und A-cappella-Formationen im Stil der Prinzen oder Flying Pickets die Szene. Dabei hat die Selbstausbeutung der selbst arrangierenden Chorleiterinnen und Chorleiter ein Ausmass angenommen, dass die Ensembles kaum mehr bereit sind, für einen extern vergebenen Kompositionsauftrag eine angemessene Summe aufzuwerfen.
Ins föderale Bild passt: Vermutlich haben nicht zuletzt Animositäten und Misstrauen dazu geführt, dass es in der Deutschschweiz nach der Abschaffung der Radiochöre nur in Ausnahmefällen gelungen ist, einen professionellen Chor über längere Zeit zu alimentieren. Zum Opfer fiel der mangelnden Bereitschaft mehrerer Städte, eine derartige Institution finanziell mitzutragen, letztlich der Schweizer Kammerchor, wie Lukas Näf, der Sohn des Gründers Fritz Näf, an der Tagung nachzeichnete.
Zum Bild
Das Foto stammt aus dem Artikel Sich singend kennenlernen von Niklaus Rüegg aus der Schweizer Musikzeitung 4/2018, Seite 8 f. Er beschreibt anhand zweier Chorprojekte, wie sich beim Singen Musik, Sprache und Kultur mit Emotionen verbinden.
Die Schweizer Musikzeitung ist Medienpartnerin dieser Tagung.