Inspiration Beethoven

Die Avantgarde-Komponistin Esther Roth gewinnt mit ihrem ersten Streichquartett den Kompositionswettbewerb Beethoven 2020 der Société Philharmonique de Bienne. Bericht von der Uraufführung.

Das Quatuor Sine Nomine führte Esther Roths «Streichquartett» erstmals auf. Foto: Thomas Knuchel

Ein Streichquartett? Sie?! Eine solch «konservative» Gattung traut man der eigenwilligen Komponistin Esther Roth (*1953) gar nicht zu. Doch die Konzeptkünstlerin, die auch Klavier und Kontrabass spielt, hat tatsächlich ein Streichquartett geschrieben, und es heisst auch einfach so: Streichquartett.

Die zweite Überraschung: Esther Roth gewinnt damit den Kompositionswettbewerb «Beethoven 2020» der Société Philharmonique de Bienne, der nur dank einer grosszügigen Spende des Mäzens Gerhard Thomke durchgeführt werden konnte. Die Preisverleihung und die Uraufführung durch das Quatuor Sine Nomine hat Pro Helvetia ermöglicht. Der Anlass fand – wegen Corona verschoben – am Pfingstsonntag, 23. Mai, im Logensaal Biel statt. Das Interesse war gross, beide Aufführungen an diesem Abend waren ausverkauft.

Die Musik von Esther Roth bringt man nicht unbedingt mit Beethoven in Verbindung. «Wieso denn nicht?», erwidert sie. Seit vielen Jahren spiele sie täglich Beethovens Klaviersonaten, und zwar auswendig. «Ich bin immer wieder von Neuem fasziniert, wenn ich sie analysiere, zu welchen Lösungen Beethoven formal und harmonisch kommt. Das hat mich bei meiner Arbeit stets inspiriert.»

Die Jury des Bieler Beethoven-Preises war hochkarätig. Präsidiert wurde sie vom namhaften Schweizer Komponisten Michael Jarrell, mit von der Partie waren zudem Beat Furrer und Giorgio Battistelli. Bei der Preisverleihung hielt Jarrell zwar keine Laudatio, obgleich man gerne eine etwas ausführlichere Begründung für diese Wahl gehabt hätte, erläuterte aber doch: «22 Komponistinnen und Komponisten haben sich um diesen Preis beworben, sie waren zwischen 20 und 80 Jahre alt. Die Partituren wurden von uns anonym geprüft. Doch noch nie war eine Jurierung, die ich erlebt habe, so einfach: Die Nr. 28 stellte – da waren wir drei uns einig – alle anderen Partituren in den Schatten.»

«Etwas vom Schönsten»

Die Nr. 28, das war das Streichquartett von Esther Roth. Es zeuge von einer grossen Sensibilität und Differenziertheit, führte Jarrell weiter aus. Und es sei etwas vom Schönsten, was er je juriert habe. «Das geschaffene Gleichgewicht zwischen der kompositorischen Idee, der Referenz an Beethoven, der gewählten Form und ihrer Entwicklung drücken sich in zarter und verhaltener Poesie aus.»

Stilistisch geht es Roth – wie so oft – auch diesmal um das Reflektieren eines Gestus. Der Quartettsatz ist sehr homogen und komplex, dabei sind drei verschiedene Klanghöhen zu verbinden. Die vier Interpreten spielen in jedem der drei Sätze mit «einem» gemeinsamen Gestus, also derselben Bewegungsart. Ihre Stimmen sind eng verflochten, und dennoch entwickelt sich der Gesamt-Gestus durch eine subtile Akzentverschiebung in jeder Stimme.

Dieses von der Minimal Music her bekannte Vorgehen entwickelt sich bei Roth im ersten Satz zu einem markant kraftvollen Klangbild, wogegen sich der dritte Satz als eine ruhige, unakzentuiert schwebende Piano-Landschaft ausbreitet. Das elfminütige Quartett hat Roth von Hand notiert, die ständigen Akzentverschiebungen von 4 zu 5 zu 6 zu 4 zu 7 fordern von den Interpreten höchste Aufmerksamkeit.

Von der Performance zur Poesie

Ursprünglich kommt Esther Roth aus dem Bereich Performance/Aktion. In den 1980er-Jahren hatte sie mit Klangmaschinen, die sie mit ihrem Mann Walter Aeschlimann im Tessin baute, Aufsehen erregt. So gewannen sie mit ihrer Klangskulptur «Gwindonia» am Internationalen Klangmaschinenwettbewerb in Dornbirn 1984 den ersten Preis. Sehr engagiert war Roth zudem bei multimedialen Spektakeln, die an ungewöhnlichen Orten stattfanden.

In den 1990er-Jahren lebte die Komponistin zwei Jahre in Madrid und lernte dort Künstler der Zaj-Gruppe für experimentelle Musik und Kunst-Performance kennen. Diese formierte sich um Avantgarde-Künstler wie Walter Marchetti und Esther Ferrer und wurde auch von John Cage unterstützt. Eine Fluxus-Bewegung, die die Komponistin aus der Schweiz stark beeinflusste.

Heute ist Esther Roth die Poesie ein zentrales Anliegen. «Poetry is everywhere» hiess das Motto der Rencontres internationales de poésie de la Goutte d’Or in Paris, an denen 2019 auch sie beteiligt war. Die Teilnehmenden kamen von überall her, und sie suchen alle nach der «poésie contemporaine, sonore, éxperimentale». Mit Vincent Barras, Christian Uetz und Pierre Thoma waren auch andere Schweizer dabei. Dieser Austausch mit Gleichgesinnten ist für Roth nach wie vor sehr inspirierend.

Ihr Ausgangspunkt ist aber die Gestik. Diese Art von «Physis» kennzeichnet die Musik von Esther Roth, sie hat etwas archaisch Handfestes und hoch Poetisches zugleich. Das Gestische, das reflektiert zu Klang wird, verleiht ihrer Poesie eine verinnerlichte Kraft und Sinnlichkeit. Dafür steht ihr prämiertes Streichquartett exemplarisch – und ist von betörender Schönheit.

Michael Jarrell übergibt den Preis an Esther Roth. Foto: Thomas Knuchel

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