Irritierend dicht

Die zweite Ausgabe der «Tuns Contemporans» wurde aus dem Theater Chur live gestreamt. Das Programm war äusserst ambitioniert – und enttäuschte nicht.

Baldur Brönnimann dirigiert Unsuk Chins «Gougalōn». Foto: Screenshot aus dem Livestream

Ein wenig gespenstisch wirkte es ja schon, als einzig die Musiker der Kammerphilharmonie Graubünden applaudierten. Zumal sie beim Eröffnungsstück der Tuns Contemporans ja ebenfalls auf der Bühne gestanden hatten. Doch ohne Publikum im Saal standen sie nun mal am Ende der Beifallsbekundungskette. Und was die Sopranistin Irina Ungureanu kurz zuvor während der Uraufführung von David Sontòn Caflischs Isopor Oss geleistet hatte, verlangte einfach nach Ovationen.

Man lernt, mit solch befremdlichen Momenten zu leben, sind sie doch nur Begleiterscheinungen der Bemühungen, das Beste aus der gegenwärtigen Situation zu machen. Und darüber, ob das Streamen von Konzerten vor leeren Rängen eine Lösung ist, lässt sich zwar streiten angesichts von Werken, die für den mit Publikum ausgestatteten Konzertsaal geschrieben worden sind. Doch für ein Festival, das erst vor zwei Jahren aus der Taufe gehoben wurde und nun seine zweite Ausgabe erlebt, ist es essenziell. Junge Pflänzchen müssen gepflegt werden, zumal solche, die mit einem gewissen Anspruch antreten. Nicht stattzufinden, ist da keine Option.

Die von den beiden professionellen Klangkörpern des Kantons Graubünden, dem Ensemble ö! und der Kammerphilharmonie Graubünden, gemeinsam initiierte Biennale formuliert nämlich gleich mehrere hochgesteckte Ziele. Die künstlerischen Leiter Philippe Bach und David Sontòn Caflisch wollten mit einem nur an Komponistinnen gerichteten Call for Scores ein Zeichen setzen für mehr Diversität in der noch immer stark männerdominierten Musikszene. Zudem ergingen Kompositionsaufträge an drei Generationen Bündner Komponisten, deren Werke Stücken von schweizerischen und internationalen Grössen gegenübergestellt wurden, darunter des Engländers Thomas Adès, der Südkoreanerin Unsuk Chin oder des Finnen Magnus Lindberg. Und nicht zuletzt sollte die zeitgenössische Musik ganz selbstverständlich in den Konzertalltag reintegriert werden.

Eindrückliche Werke überzeugend interpretiert

Es ist schon richtig, sich hohe Ziele zu setzen. Und dass mit Magnus Lindberg ein Star der Szene als Composer in Residence gewonnen werden konnte, bestätigt die Veranstalter in ihren höchsten Ansprüchen . Einzig die Menge an Themen irritierte, gab es über ein Wochenende verteilt doch lediglich vier Konzerte. So mussten quasi in jedem Konzert alle Themen abgehandelt respektive abgehakt werden, was etwas gezwungen wirkte. Doch Programme, egal wie schlüssig sie auch daherkommen, verlieren angesichts der klingenden Realität der Musik sowieso ihre Bedeutung. Was zählt sind die Werke und ihre Interpretation, und hier hatte Tuns Contemporans viel zu bieten.

Das war bereits nach dem schon erwähnten ersten Stück zu erahnen und erst recht nach dem ganzen Eröffnungskonzert. Da folgte auf das extrem expressive Isopor Oss mit Thomas Adès’ Lieux retrouvés für Violoncello und Orchester ein Stück von ganz anderer Machart. Adès zählt dank seinen verhältnismässig eingängigen Werken zu den erfolgreichsten Protagonisten der Zunft. Dass es sich dabei aber nicht einfach um weichgespülte Neue Musik handelt, wie man vermuten könnte, bewies die Cellistin Karolina Öhmann mit Ihrer Interpretation. Gerade der dritte Satz mag exemplarisch dafür sein: Das Solo-Cello spielt durchgehend ein stets variiertes Vierton-Motiv, zwei Töne auf / zwei Töne ab, und entwickelt dabei eine vibrierende Eindringlichkeit. Beeindruckend in seiner ausdrucksstarken Ökonomie.

Wie gross der Bogen war, der von Chur aus aufgespannt wurde, kann man am Konzert vom Samstag ersehen. Auf der einen Seite Gougalōn der in Berlin lebenden Südkoreanerin Unsuk Chin. In dem ungemein farbigen, humorvollen und manchmal auch derb wilden Stück wird die Atmosphäre der Märkte aus ihrer Kindheit heraufbeschworen. Das bunte Treiben mit Strassenmusikern und Gauklern findet seine Entsprechung unter anderem in einem Duo für Flaschen und Dosen. Doch bei aller Hektik hat auch das geheimnisvoll Romantische seinen Platz: Der zweite Satz kommt als Barkarole daher, fernöstlich angehaucht, beinahe kitschig, wären da nicht die wiederkehrenden dissonanten Akkordschläge des Ensembles.

Dieser klanglichen Wundertüte gegenüber stand die Uraufführung von Martin Derungs’ Changements. Der Komponist beeindruckte darin einmal mehr als Zauberkünstler, der aus kurzen Gestalten grössere Formen zu entwickeln weiss. Der Titel erwies sich dabei als Programm, ganz fein befinden sich die Gedanken in stetem Fluss, ohne je zum viel beschworenen Strom anzuschwellen. Vielmehr behandelt Derungs sein Material mit äusserster Vorsicht und Zurückhaltung. Als einer, der weiss, dass die von ihm ersonnenen Klanggestalten von selbst wirken, wenn man ihnen nur den Raum zur Entfaltung gibt.

Schade war, dass die Werke der drei Gewinnerinnen des Call for Scores im dicht strukturierten Programm etwas untergingen. Vera Ivanovas Still Images etwa mussten sich zwischen Chin und Derungs behaupten, was keine leichte Aufgabe ist. Sie wurden quasi zum Opfer des hohen Niveaus des ganzen Festivals. Eine leise Kritik, die man eigentlich jeder Veranstaltung wünscht.

Das vollständige Programm und Links zu den aufgezeichneten Konzerten:

https://www.tunscontemporans.ch/programm

 

Alle Livestreams sind noch bis am 9. Mai 2021 online.

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