Ein Musikfürst der Renaissance

Zum bevorstehenden 500. Todestag von Josquin Desprez spricht Roland Wächter, Programmverantwortlicher des Festivals Alte Musik Zürich, mit Max Nyffeler über Leben und Werk sowie das zeitliche Umfeld des Komponisten. Zu seinen Lebzeiten war er eine europäische Koryphäe. Und was hat er uns heute noch zu sagen?

Holzschnitt aus: Petrus Opmeer, Opus chronographicum orbis universi, 1611

Max Nyffeler: Am 27. August jährt sich der Todestag von Josquin Desprez zum 500. Mal, und dazu gibt es jetzt im März beim Festival Alte Musik Zürich einen Programmschwerpunkt. Von welchen Überlegungen habt ihr euch dabei leiten lassen?
Roland Wächter: Gedenktage bringen immer eine erhöhte Aufmerksamkeit mit sich. Da bietet es sich für einen Veranstalter an, darauf einzugehen. Bei Beethoven wäre das nicht unbedingt nötig gewesen, den kennen alle. Aber bei dem vielleicht grössten Komponisten der Renaissance, der im heutigen Musikleben wenig bekannt ist, ist das etwas anderes.

Wie schlägt sich das konkret im Programm nieder?
Man kann natürlich nicht ein Festivalprogramm nur mit Josquins Musik bestreiten. Deshalb haben wir im begrenzten Rahmen unserer Konzerte auch sein Umfeld skizziert und etwa die Missa «Et ecce terrae motus» von Antoine Brumel, einem Zeitgenossen Josquins, hineingenommen. Mit ihren zwölf Stimmen – die Norm war damals vier – ist sie eines der spektakulärsten Werke der Renaissance, und manchmal erinnert sie an amerikanische Minimal Music. Zum Beispiel an Steve Reich.

Ein kühner Vergleich.
Der ist nicht so weit hergeholt, wenn man bedenkt, dass Reich sich ausdrücklich auf das dritte Agnus Dei aus Josquins Missa «L’homme armé sexti toni»  bezieht, wo die vier Oberstimmen paarweise im Kanon geführt sind und Tenor und Bass die Melodie der Chanson L’homme armé gleichzeitig vorwärts und im Krebs singen. Solche Kanonkunststücke haben Reich inspiriert.

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«L’homme armé» im «Mellon Chansonnier», 1470, 45r

Max Nyffeler: Euer Programm enthält auch zahlreiche Chansons von Josquin und anderen.
Roland Wächter: Diese weltlichen polyfonen Lieder sind ein wichtiger Schaffenszweig Josquins. An ihn haben dann französische Komponisten wie Clément Janequin und Claude Le Jeune angeknüpft und die Gattung der polyfonen Chanson auf einen Höhepunkt geführt.

Worin besteht die viel zitierte historische Bedeutung Josquins?
Er knüpft einerseits an Vorgänger wie Guillaume Dufay und Johannes Ockeghem an, die das damals neuartige Gebilde eines harmonischen Satzes mit gleichberechtigten Stimmen geprägt haben. Diesen Vokalsatz bereichert er andererseits mit einer Ausdruckskraft, die es vordem nicht gegeben hat. Bei Dufay und Ockeghem steht noch das Konstruktive, etwa die kanonische Stimmführung, im Vordergrund, während bei Josquin nun auch die Wortbedeutung eine Rolle spielt. In vielen Werken kann man einen direkten Zusammenhang zwischen Wort und Musik beobachten. Das rückt ihn uns näher. Aber die Frage ist natürlich, wie weit wir heute noch ein Ohr für diese Ausdrucksvaleurs haben.

Wege zu einer neuen Klangsinnlichkeit

Max Nyffeler: Josquins Musik ist auch sehr viel konsonanter als die seiner Vorgänger, und die Harmonik wird flächiger.
Roland Wächter: Bei Dufay und Ockeghem hat die Harmonik noch etwas Herbes, Harsches. Josquin war viele Jahre in Italien, und vermutlich ist durch den italienischen Einfluss auch eine neue Art von Transparenz und Geschmeidigkeit in seine Musik hineingekommen. Sie hat manchmal geradezu etwas Süffiges, was man von Dufay oder Ockeghem nicht sagen kann. Etwa Tu solus qui facis mirabilia oder Ave Maria virgo serena: Solche Stücke haben einen unmittelbaren Effekt, und die Frottola El Grillo  ist fast ein Schlager.

Da zeigt sich eine Parallele zur bildenden Kunst seiner Zeit, die ebenfalls eine ganz neue sinnliche Ausstrahlung entwickelt, auch bei religiösen Motiven.
Absolut. Seine unmittelbaren Nachfahren haben diesen Bezug auch hergestellt und gesagt: Josquin mit seiner Sinnlichkeit und Ausdruckskraft ist sozusagen der Michelangelo der Musik.

Verlief Josquins künstlerische Entwicklung geradlinig oder sprunghaft? Er führte ja ein eher unstetes Leben.
Das ist schwierig zu beantworten, denn nur wenige Werke lassen sich datieren. Einen Anhaltspunkt liefern zwar die Druckausgaben von Ottaviano Petrucci in Venedig, die ab 1502 erscheinen. Da sie aber keine Entstehungsdaten der Werke enthalten, tappt man mehr oder weniger im Dunkeln. Die Musikwissenschaft versucht deshalb die stilistische Entwicklung auf der Basis der vorhandenen Daten zu rekonstruieren. Danach beginnt Josquin in der Tradition seiner Vorgänger Dufay und Ockeghem: Es gibt einen Cantus firmus im Tenor, bestehend aus einem Fragment des gregorianischen Chorals oder einer Chanson, und um dieses Gerüst herum ranken sich die Kanons der anderen Stimmen. Diese Kanontechnik mit ihren Varianten der Ausgangsmelodie – Krebs, Umkehrung, Krebs der Umkehrung, Verkürzung, Dehnung etc. – ist ein wesentliches Merkmal der früheren Renaissancemusik. Davon löst sich Josquin offensichtlich in seiner mittleren Phase, denn hier taucht der Cantus nicht nur im Tenor auf, sondern kann auch durch die anderen Stimmen wandern, wobei es zu imitatorischen Verfahren kommt. Die Stimmen partizipieren also an einer gemeinsamen Motivik. In seiner letzten Schaffensphase entwickelt sich das alles in die Richtung einer relativ freien Kompositionstechnik, wo er das Material nach eher subjektiven Gesichtspunkten ordnet.

Komponist in kriegerischer Epoche

Max Nyffeler: Josquin Desprez (oder des Prez) wurde vermutlich 1450 in der Nähe von Saint-Quentin im heutigen Nordfrankreich geboren und starb 1521. Er lebte in der sogenannten Hochrenaissance, einer Zeit der Extreme: einerseits eine Blütezeit der Künste und Wissenschaften, andererseits eine Zeit der grossen Umbrüche und Kriege. 1477 besiegen die Eidgenossen bei Nancy Herzog Karl den Kühnen und bringen damit das mächtige Burgunderreich, eine wirtschaftliche und nebenbei auch musikalische Grossmacht, zum Einsturz. 1492 entdeckt Kolumbus Amerika, 1517 formulierte Luther seine 95 Thesen, die den Beginn der Reformation markieren. Da stellt sich die Frage: Finden diese Konflikte einen Widerhall in Josquins Musik? Oder ist sie einfach «zeitlos»?

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Die Basilika von Saint-Quentin. Foto: Pierre Poschadel/WikiCommons

Roland Wächter: In der religiösen Musik geht es um die ewigen Wahrheiten und eben gerade nicht um das Zeitliche mit Krieg, Pest und Hungersnot. Das Zeitliche hat sich allenfalls in seiner weltlichen Musik niedergeschlagen, vor allem in den Chansons. Sie haben eine deutlich melancholische Grundhaltung und handeln meist von seelischem Schmerz und unerfüllter Liebe. Man sieht es schon in den Titeln: Mille regretz  und Adieux mes amours. Oder Fortuna desperata, verzweifeltes, hoffnungsloses Schicksal. Über die Melodie dieser Chanson hat Josquin auch eine Parodiemesse geschrieben, ebenso über die Chanson Malheur me bat von Ockeghem.

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«Melencolia I», Kupferstich 1514 von Albrecht Dürer

Max Nyffeler: Die Melancholie scheint wirklich ein Zeitgeistphänomen gewesen zu sein, man denke nur an Dürers Kupferstich «Melencolia I» von 1514.
Und dann gibt es ja auch das damals populäre Lied L’homme armé, das auf Krieg verweist und von Josquin und vielen anderen als Vorlage für Cantus-firmus-Messen genommen wurde. Man darf nicht vergessen: Es war damals die Aufgabe der Fürsten, Krieg zu führen, so merkwürdig das heute klingt. Es ging um die Absicherung und Erweiterung des Machtbereichs.

Und um die Kontrolle der Handelsrouten, also um wirtschaftliche Macht. Gerade für Burgund spielte das eine grosse Rolle. Es war schon eine Form von frühbürgerlicher Wirtschaft, die sich im 15. Jahrhundert in den niederländischen Besitztümern der Herzöge entwickelte.

Vom Burgund nach Italien und zurück

Roland Wächter: Es ist bemerkenswert, dass fast alle führenden Renaissancekomponisten, die sogenannten «Niederländer», aus einem Kerngebiet dieser burgundischen Ländereien kommen, nämlich aus dem heutigen Grenzgebiet zwischen Frankreich und Belgien, dem Hainaut, auf Deutsch Hennegau. Man kann das mit dem damaligen Reichtum dieser Region erklären, und davon konnten wahrscheinlich auch die kirchlichen Singschulen, die sogenannten Maîtrisen, profitieren. Die hier ausgebildeten Musiker wurden häufig nach Italien engagiert. Zu den wenigen Ausnahmen gehört Ockeghem. Aber Dufay ist gleichsam zwischen seiner Heimat und Italien hin- und hergependelt, Josquin war in seinen früheren Jahren lange in Italien, und Komponisten wie Adrian Willaert sind gleich dortgeblieben und hatten wie Cipriano de Rore sogar einen italianisierten Namen.

Max Nyffeler: Vermutlich folgten die Komponisten den Handelswegen, die von den führenden Handels- und Geldhäusern im Burgund, den Medici in Florenz und anderen quer durch den Kontinent installiert wurden. Da liegt der Schluss nahe, dass sie von ihren Förderern auch als kulturelle Zugabe zu den Geschäftsbeziehungen auf Reisen geschickt wurden.
Viele dieser Komponisten – es waren im damaligen Verständnis eigentlich Sänger, den Beruf des Komponisten gab es noch nicht – waren auch hochgestellte Sekretäre von Fürsten und Kirchenleuten und oft in diplomatischer Mission für ihre Brotherren unterwegs. Andererseits war an den italienischen Fürstenhöfen viel Geld vorhanden, und damit wurden die kulturellen Repräsentationsbedürfnisse bedient.

Von Fürsten umworben und hoch bezahlt

Max Nyffeler: Jacob Burckhardt weist in seiner grundlegenden Schrift «Die Kultur der Renaissance in Italien» darauf hin, dass es unter den Fürsten einen richtiggehenden Wettstreit in der Prunkentfaltung gab. Die berühmten Künstler wurden mit hohen Gagen und Privilegien an die Höfe gelockt.

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Ercole d’Este (1431–1505). Dosso Dossi (1469–1542)

Roland Wächter: Es gibt die Anekdote vom Fürsten Ercole I. von Ferrara, der einen neuen Musiker sucht und seine Agenten durch Europa schickt. Einer schreibt ihm: «Da nur das Beste gut genug ist, kommen nur entweder Heinrich Isaac oder Josquin Desprez in Frage. Isaac ist sehr umgänglich mit den Musikern, er komponiert das, was man bei ihm bestellt, und er kommt für 120 Dukaten. Josquin hingegen ist ein schwieriger Typ, er komponiert nur, wenn er will, und verlangt 200 Dukaten.» Für den Fürsten ist aber ganz klar: Er muss Josquin haben. Musik hatte damals eine Repräsentationsfunktion, wie wir uns das heute gar nicht mehr vorstellen können. Heute besitzen die Superreichen Fussballklubs.

Den Gehaltszahlungen nach zu schliessen, war er nur kurz in Ferrara, von 1503 bis 1504. Davor war er längere Zeit Mitglied der päpstlichen Kapelle in Rom, vielleicht in Mailand bei den Sforza und wohl ab 1501 zwei Jahre lang im Dienst des französischen Königs. Viele Daten im Leben Josquins sind ungesichert. Ferrara verliess er 1504 vermutlich wegen der Pest und reiste zurück in seine Heimat, nach Condé-sur-l’Escaut im Hennegau, wo er bis zu seinem Tod 1521 ein hohes kirchliches Amt bekleidete.

Ein Beethoven des 16. Jahrhunderts

Max Nyffeler: Wie wurde Josquin nach seinem Tod wahrgenommen?
Roland Wächter: Für die nächsten zwei bis drei Generationen von Komponisten war er eine unangefochtene Autorität.

Das erinnert ja fast an Beethovens Wirkung im 19. Jahrhundert.
Der Vergleich trifft durchaus zu. Allerdings übte Beethoven auf die nachfolgenden Generationen eine einschüchternde Wirkung aus. Bei Josquin ist es geradezu umgekehrt: Das Modellhafte, das man seinen Werken zusprach, forderte die Späteren zur Nachahmung heraus.

Eine wichtige Rolle bei dieser Etablierung zum «Klassiker» spielten die Notendrucke von Petrucci.
Josquin ist der erste Komponist der Musikgeschichte, dem exklusiv ein ganzer Band gewidmet wurde; Petruccis Druck von 1502, Missae Josquin, enthält fünf seiner Messen. Daraus lässt sich die Bedeutung ablesen, die man ihm schon zu Lebzeiten beimass. Josquin war zweifellos in das Vorhaben einbezogen und hat das neue Medium Notendruck gezielt verwendet, um seine Musik zu verbreiten. Der Messe-Band erfuhr drei Auflagen, und das heisst: Er wurde verkauft und fand ein Publikum. Dann erscheint Josquin aber auch in den Schriften von Theoretikern wie dem in Basel wirkenden Glarean, der in Josquins aufgelockerter Polyfonie das exemplarische Kompositionsmodell erblickt.

Bereits Martin Luther sagte von ihm: «Josquin ist der noten meister; die habens müssen machen, wie er wolt.»
Auch von Autoren ausserhalb der Musik wird Josquin als der grosse Komponist gefeiert. Sein Einfluss reicht bis Palestrina, Orlando di Lasso und Tomás Luis de Victoria, also bis an die Schwelle des Barock.

Dann verliert seine Rezeption offensichtlich an Kraft. Wie kommt das? Das war doch bei seinen Zeitgenossen aus der bildenden Kunst wie Leonardo, Raffael und Michelangelo nicht der Fall.
Das hat vermutlich zwei Gründe. Um 1600 gibt es den grossen Paradigmenwechsel von der Polyfonie zum begleiteten Sologesang, der Monodie, wo der leidenschaftliche Ausdruck des Subjekts im Zentrum steht, und zum Generalbass. Für diesen Wechsel steht exemplarisch Monteverdi, der noch beide Stile beherrschte. Der andere Grund liegt im flüchtigen Wesen der Musik selbst. Ein Bild, einmal gemalt, bleibt lange Zeit bestehen. Aber eine Partitur verschwindet ganz einfach in der Schublade, wenn sie nicht immer wieder neu zum Klingen gebracht wird. Denn nicht zu vergessen: In der Vergangenheit wurde immer nur «Neue Musik» aufgeführt, also Stücke, die für das Hier und Jetzt komponiert wurden. Dass Orlando di Lasso in München die berühmte (und nun auch von uns programmierte) Missa «Et ecce terrae motus» von Antoine Brumel aufführte, ist eine grosse Ausnahme. Damit hat er das Werk überhaupt für die Nachwelt gerettet, denn seine Abschrift ist bis heute die einzige Quelle.

Josquin aufführen und hören

Max Nyffeler: Es waren die Komponisten, die später auch die Erinnerung an Josquins Musik wachgehalten haben.
Roland Wächter: Aber aufgeführt wurden seine Werke wie überhaupt die Musik der Renaissance nicht mehr. Dem stets grösser werdenden Publikum der neuen Epoche konnte oder wollte man das offensichtlich nicht zumuten. Erst im 19. Jahrhundert mit dem aufkommenden Historismus rückt diese Musik langsam wieder ins Blickfeld.

Heute scheint Josquin noch immer ein Fall für Spezialensembles und ein Spezialpublikum zu sein.
Absolut. Die ganze Epoche der Renaissance bildet noch immer ein Randgebiet des Musiklebens. Die letzte grosse Aneignung von alter Musik betraf Monteverdi in den Siebziger- und Achtzigerjahren des 20. Jahrhunderts. Das geschah hauptsächlich über die Oper, was die Wahrnehmung erleichterte. Doch die Musik vor 1600 ist noch immer eine Spezialangelegenheit. Die Interpreten müssen sich erst einmal in sie hineinarbeiten.

Was die Aufführungspraxis angeht, so ist ohnehin vieles noch immer unklar und bleibt es wohl auch. Neuerdings ist oft von vokal-instrumentaler Mischbesetzung die Rede, aber im Detail weiss man es offenbar nicht so genau.
Von den älteren führenden Interpreten wie dem Hilliard Ensemble, den Tallis Scholars oder Philippe Herreweghe kennen wir diese Werke in rein vokalen Versionen. Das ist sicher die hauptsächliche Möglichkeit, aber nicht die einzige. Es gibt wohl auch unterschiedliche lokale Traditionen, zum Beispiel wurde in der Sistina in Rom immer a cappella gesungen. An anderen Orten waren Instrumente dabei, es gibt entsprechende Abbildungen und Hinweise in den Quellen. Aber wie sie im Detail eingesetzt wurden, weiss man nicht. Jüngere Ensembles arbeiten heute mit Mischbesetzungen, zum Beispiel die Gruppen thélème oder The Earle His Viols von Elisabeth Rumsey, die auch bei uns auftreten.

Auch das Publikum muss erst ein Ohr für diese Musik entwickeln.
Wir haben, abgesehen von ein paar wenigen Stücken, meist keinen unmittelbaren Zugang zu ihr, ausser man geniesst einfach ihren Wohlklang und gibt sich damit zufrieden. Aber wo man Josquin heute am häufigsten findet, und zwar auf hervorragende und auch unterschiedliche Weise interpretiert, das sind die Tonträger. Hier gibt es ein grosses Angebot.

Und das verkauft sich offensichtlich. Also existiert dafür doch ein grösseres Publikum.
Nur reicht es nicht für kontinuierliche Konzertreihen. Aber der CD-Markt funktioniert. In den letzten Wochen ist mindestens ein halbes Dutzend CDs mit Musik von Josquin erschienen, was natürlich mit seinem 500. Todestag im Sommer zusammenhängt.

Eine Inspirationsquelle für die heutigen Komponisten

Max Nyffeler: Erfreulicherweise zeigen auch die Komponisten des 20. und 21. Jahrhunderts ein wachsendes Interesse an der Renaissancemusik.
Roland Wächter: Einer der ersten war Anton Webern, der 1906 seine Doktorarbeit über Heinrich Isaac schrieb, was sich zweifellos auf sein Strukturdenken in den späteren zwölftönigen Werken ausgewirkt hat. Zu erwähnen ist sodann das grosse Chorwerk von Ernst Krenek, Lamentatio Jeremiae Prophetae, das im Geist der alten Vokalpolyfonie komponiert ist.

Ungewöhnlich oft hat sich Klaus Huber auf Komponisten der Renaissance bezogen: 1979 in «Beati pauperes II», einer – nach seinen eigenen Worten – «Kontrafaktur» der Motetten «Beati pauperes» und «Beati pacifici» von Orlando di Lasso, 1992 in «Agnus Dei cum recordatione», einer «Hommage à Jehan Okeghem», aufbauend auf dessen «Missa prolationum», 1997 in «Lamentationes Sacrae et Profanae ad Responsoria Iesualdi» mit Bezugspunkt Gesualdo und 2006 mit dem in Luzern uraufgeführten «Miserere hominibus», das nicht nur arabische Skalen verwendet, sondern mit seinem polyfonen, instrumental/vokal gemischten Satz auch erkennbar auf Josquin rekurriert. Dies sind nur einige der von Renaissancetechniken beeinflussten Werke von Klaus Huber.

Auch Steve Reich mit seinem Bezug auf Josquins Missa «L’homme armé sexti toni» sollte nochmals erwähnt werden. Er betrachtet die hier praktizierten Verfahren als modellhaft für die Minimal Music.

In England waren es die Komponisten der sogenannten Manchester School, vor allem Peter Maxwell Davies, die die Partituren der Renaissancemeister studiert und für die eigene Musik fruchtbar gemacht haben. In diesem Fall allerdings die englischen Komponisten des 16. Jahrhunderts wie John Taverner und Thomas Tallis.

Und auch Ralph Vaughan Williams hat sich direkt auf Tallis bezogen. Man könnte wahrscheinlich in der Musik unserer Zeit noch viele solche Traditionsbezüge finden. Das zeigt, dass die Renaissance keineswegs eine historisch tote Epoche ist.

Diskografie

Neuaufnahmen 2020/21, die auch die aktuellen unterschiedlichen Interpretationsmöglichkeiten spiegeln.

1. Rein vokale Interpretationen

The Golden Renaissance: Josquin des Prez
Missa «Pange lingua» und Motetten
Stile antico
Decca 485 1340
Josquin: Motets and Mass Movements (Motetten und einzelne Messsätze)
Brabant Ensemble
Hyperion CDA 68 321

Josquin des Prez: Missa Hercules Dux Ferrarie, Missa D’ung aultre amer & Missa Faysant regretz
The Tallis Scholars, Peter Phillips (Dirigent)
Gimell CDGIM051
(Auf der Longlist 1/2021 – Preis der deutschen Schallplattenkritik)

2. Vokal-instrumentale Interpretationen

Josquin des Prez: Adieu mes Amours
Romain Bockler (Bariton solo) und Bor Zuljan (Laute)
Ricercar RIC 403
Josquin Desprez: Stabat Mater
Motetten und instrumentale Chansons
Cantica Symphonia
Glossa GCD P31909
Le Septiesme Livre de Chansons – Chansons von Josquin Desprez
Ensemble Clément Janequin
Ricercar RIC 423

3. Rein instrumentale Interpretationen von Vokalwerken
Josquin des Prez: Inviolata
Motetten und Messsätze in Fassungen für Laute solo
Jacob Heringman, Laute und Vihuela
Inventa INV 1004

 

WEITERER LINK
Ein Youtube-Video von vielen
Hier wird die Krebsform des III. Agnus Dei aus Josquins Missa «L’homme armé sexti toni» visualisiert, indem der Zoom mit dem Bild von Raffael in der 2. Hälfte wieder rückwärts geht (siehe die Analyse im Kommentar zum Video).

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