Verschiebungen der feinen Art

Vom 2. bis 6. September fand das Musikfestival Bern statt. Das Thema «Tektonik» hätte aktueller nicht sein können. Dank der grossen Flexibilität aller Beteiligten wurde ein dichtes und vielseitiges Programm realisiert.

Studierende des Interpretationskurses im Steinatelier Bernasconi in Hosokawas «Birds Fragments III». Fotos: © Annette Boutellier/Musikfestival Bern

Wer sich im Festivalkalender umschaut, hat längst bemerkt, dass Anfang September in Bern seit Jahren ein programmatisch dichtes, diskursives, ideenreiches und klangbuntes Musikfestival über traditionelle wie unkonventionelle Bühnen geht. Das diesjährige Festivalthema «Tektonik» spürte gross- und kleinräumigen Verschiebungen, Schichtungen, Faltungen und Rissen nach. Da sich indes der Grundgedanke des Kuratoriums, «So trittfest uns die Erdkruste scheint, so birgt sie doch Ungewährtes», durch die Corona-Krise auf eine derart radikale Weise bewahrheitete, wurden die Leitungsgremien des Musikfestivals Bern vor schwierige Entscheide gestellt. Kuratorium, Geschäftsstelle und Vorstand waren sich jedoch schon während des Lockdowns im Grundsatz einig gewesen, das Festival auf jeden Fall mit einem je nach Entwicklung der Dinge strengen Schutzkonzept durchzuführen. Allenfalls sollte das Programm in fragmentierter oder auch sehr reduzierter Form realisiert werden – unter Umständen gar in Splittern, das Thema gleichsam paraphrasierend. Eine Absage stand nicht zur Debatte, gerade mit Blick auf die Situation der freischaffenden Musikerinnen und Musiker. Dass die neue Lage partielle Programmumstellungen, grössere Räume und insbesondere eine grosse Flexibilität aller Beteiligten erforderte, ist naheliegend. Die Dichte und Vielseitigkeit der beinahe vierzig Veranstaltungen innerhalb von fünf Tagen tangierte dies erstaunlicher- und erfreulicherweise nicht. Einzig auf die Anwesenheit von Toshio Hosokawa, den Composer in Residence, musste verzichtet werden, nicht jedoch auf seine Musik und seine Präsenz via Videozuschaltung. Der mit ihm geplante Interpretationskurs für die Studierenden der Hochschule der Künste Bern wurde durch das Arditti-Quartett übernommen. Dass ein Ensemble von diesem Renommee sich für dieses zusätzliche Engagement zur Verfügung stellte, war ein einzigartiger Glücksfall, aber auch ein Zeichen der Sympathie des Ensembles, hatten sich doch die vier Musiker bereits bei ihrem letztjährigen Auftritt begeistert zu Konzept und Programm des Festivals geäussert.

Die Auftritte des Quartetts prägten denn auch die diesjährige Ausgabe deutlich. Die Kooperation mit jungen Musikerinnen und Musikern in der Aufführung von Toshio Hosokawas Monodram The Raven (Text E. A. Poe) liess ein wesentliches Kennzeichen des Festivals Wirklichkeit werden: Die Zusammenarbeit hiesiger Interpreten und Interpretinnen mit hochkarätigen Gästen. Das Eröffnungskonzert in der grossen Halle der Berner Reitschule mit der Mezzosopranistin Christina Daletska (Hosokawa) und der Basel Sinfonietta (Ives) bildete einen wunderbaren Einstieg.

Toshio Hosakawa: «The Raven». Christina Daletska, das Arditti-Quartett und das Festivalensemble

Ausdruck einer aktuellen Wirklichkeit

Mit der grossen Halle ist ein weiteres Charakteristikum des Festivals angesprochen: die Verbindung thematisch gebundener Projekte mit speziellen, mitunter auch überraschenden Spielorten. So trat die neuentwickelte Contrabassclarinet extended (Ernesto Molinari) im Klingenden Museum in den Dialog mit Live-Elektronik, so liessen performative Interventionen im Inneren der Monbijoubrücke seismografische Aktivitäten erfahrbar machen und so interpretierte das Trio Tramontana Kaija Saariahos New Gates im Blutturm an der Aare. Eine zauberhafte wie bedenkenswerte Konstellation erwartete das Publikum mitten im Dählhölzliwald, wo das Kollektiv Mycelium gemeinsam mit Brane Project (akustische Installation) und Idéehaut (Bauten) in den Bäumen ein schwebendes Netz zum Konzertort gestaltete und in einem komponierten Programm zeitgenössische Musik mit Gesängen der Penan aus dem Regenwald von Borneo verband.

Wer sich in die Schichtungen der Erdkruste begibt, kann sich den unterschiedlichen Steinklängen nicht entziehen. In den Steinateliers der Firma Bernasconi demonstrierten das Mondrian-Ensemble und Erika Öhmann (Perkussion) die mal schwebende, mal elektrisierende Klangwelt der Serpentinsteininstrumente Orgalitho und Lithofon in Werken von Edu Haubensak, Hans-Jürg Meier, Matthias Steinauer sowie in einer Uraufführung von Samuel Cosandey. Wie bernische Baumaterialien, seien es Sandstein oder Granite, naturbelassen klingen, war durch Peter Streiff und das Ginger-Ensemble in der Nydeggkirche und im Stadttheater zu erfahren.

Nicht allein eine «grandiose Katastrophe», eine buchstäblich erschütternde Erfahrung machte das Publikum in der Krypta der Kirche St. Peter und Paul, als René Waldhauser zu Peter Conradin Zumthors gehämmerter Flügelperformance das Instrument bis zum saitenbullernden Geräusch runterstimmte.

Die einzigartige Vielseitigkeit des Festivals verbietet beinahe, von Main Acts zu sprechen. Das Konzert im Berner Münster mit dem Ensemble BernVocal (Leitung Fritz Krämer), dem Arditti-Quartett und einem Perkussionsquartett auf der Orgelempore (Mihaela Despa, Peter Fleischlin, Pascal Viglino, Sacha Perusset) ruft indessen nach Erwähnung. Die Gegenüberstellung von Antoine Brumels Messe Et ecce terrae motae mit Werken von Hosakawa war ein Raum-Klang-Ereignis der besonderen Art. Auch hier bildeten klangliche Dichte, Kontrast und ein Perspektivenwechsel des Hörens ein unverkennbares «Markenzeichen».

Von Schichtungen ganz anderer Art erzählt der aus Nigeria stammende St. Galler Komponist Charles Uzor in Mothertongue, wenn er Texte der Igbo (Ethnie in mehreren äquatorialafrikanischen Regionen), von Novalis, Celan, Rauhavirta und Beckett mit alter europäischer Musik sowie Musik der Gbaya-Völker übereinanderschichtet. Hier entsteht ein Kultur- und Klangkonglomerat, das uns fremd erscheinen mag, aber auch Ausdruck einer aktuellen Wirklichkeit ist. Generationenübergreifende Textschichtungen gerieten in einem Projekt von Elina Bächlin und Noel Schmidlin gemeinsam mit den Spoken-Word-Gästen Guy Krneta und Marco Gurtner zu Sprachklang.

Umschichtungen

Als eigenwilliges Raumklangprogramm erwies sich das Konzert des Quintetts für Rohrblattinstrumente mit Matthias Arter, Martin Bliggenstorfer, Valentine Collet, Béatrice Laplante und Béatrice Zawodnik. Eigenwillig, weil das Programm mit Musik von Daniel Glaus, Barblina Meierhans, Heinz Holliger, Toshio Hosokawa und Matthias Arter in den Räumen der Berner Kunsthalle vom Gesang der Oboe d’amore bis zur Schärfe des Ensembleklangs wucherte.

Eine beunruhigende Realität thematisierte der Zyklus 5vor12um6, wo Komponierende sowie Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen Umschichtungen in unseren Köpfen thematisierten, nämlich drängende Fragen zu Klimawandel, Nachhaltigkeit oder sozialen Diskrepanzen.

Soll und darf in einem derart geballten Angebot von einem Glanz- oder Höhepunkt die Rede sein? Vor der Intensität und technischen Souveränität im Konzert des Arditti-Quartetts mit zwei Quartetten von James Clarke, dem dritten Streichquartett von Ferneyhough und Tetras von Xenakis verblassen Umschreibungen. Die Präsenz, die scheinbare Leichtigkeit und die Virtuosität der vier Streicher, rissen das Publikum hin zu Standing Ovations – zu Recht.

Die Schweizer Musikzeitung ist Medienpartnerin des Musikfestivals Bern.

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