Der Klang der Bilder
Das Musikkollegium Winterthur präsentierte am Preisträgerkonzert der Rychenberg Competition eine eindrückliche Werkschau. Fotoserien bildeten den Ausgangspunkt für die Kompositionen.

Vorbei die Zeiten, in denen Kritiker Schmähschriften über Konzerte verfassen konnten, die sie gar nicht mit ihrer Anwesenheit beehrt hatten. Contact Tracing heisst das Zauberwort, eine ungeliebte Gilde in die Schranken zu weisen. So nützte es dem Rezensenten denn auch nichts, dass das Preisträgerkonzert der Rychenberg Competition am 9. September live aus dem Stadthaus Winterthur gestreamt wurde. Seine fehlende physische Präsenz wäre trotz seines Wissens über den Verlauf des Abends aufgefallen.
Ein Glücksfall war das Streaming hingegen für die beiden Komponistinnen Annachiara Gedda und Verena Weinmann, die dem Konzert aus quarantäne-technischen Gründen fernbleiben mussten. Junge Tonsetzer haben zu selten Gelegenheit, ihre im stillen Kämmerlein ausgebrüteten Klangkombinationen und dramaturgischen Abläufe einem Realitätstest auszusetzen, insbesondere bei Orchesterwerken. Digitale Technik erlaubte den beiden nun, die Chance zumindest nicht ganz ungenutzt verstreichen zu lassen, auch wenn das Erlebnis nicht mit dem vergleichbar ist, was man vor Ort mitbekommt.
Gedda und Weinmann sind zwei von fünf Preisträgern, die an der Rychenberg Competition prämiert und am Schlusskonzert aufgeführt wurden. Der internationale Kompositionswettbewerb war 2018 vom Musikkollegium Winterthur gemeinsam mit dem Fotomuseum Winterthur lanciert worden, mit der Besonderheit, dass sich die Teilnehmer mit ihrem Orchesterwerk auf eine von drei Fotoserien beziehen müssen, die das Museum ausgesucht hat. Eine nicht alltägliche Aufgabe, zu der sich 191 Komponistinnen und Komponisten aus über 30 Ländern angemeldet haben. Eingereicht bis Ende März 2019 wurden schliesslich 85 Werke, von denen zehn durch eine Jury um Präsident Alfred Zimmerlin für das Schlusskonzert nominiert wurden. Für diese zehn Stücke leistete das Musikkollegium dann einen Effort, der nicht hoch genug eingeschätzt werden kann. Innert kürzester Zeit wurden sie einstudiert, unter wechselnder Leitung von Thomas Zehetmair und Pierre-Alain Monot letzten Sommer aufgenommen und für ein Publikums-Voting ins Netz gestellt. (Sie sind noch immer zu hören unter www.rychenbergcompetition.ch.)
Erstaunliche Publikumswahl
Gewonnen wurde der Publikumspreis vom Thurgauer Fabian Künzli. Sein Werk Die liegende Sanduhr ist ein Spezialfall, da die am Preisträgerkonzert gespielte Fassung nicht der online präsentierten Version entsprach. Diese wurde nämlich bei gleichbleibenden Tonhöhen um den Faktor 8 beschleunigt. Etwas nachdenklich stimmt einen dieser Umstand schon. Denn die Schnelldurchlauf-Version, die also das Publikum am häufigsten als besten Beitrag ausgewählt hatte, wirkt gegenüber dem live gespielten Stück wie die Karikatur von Musik, flach und blass. Wie diese im Ergebnis doch kalt wirkende Versuchsanordnung das Publikum zu erwärmen vermochte, ist rätselhaft. Eventuell war es das aussergewöhnliche Konzept?
Zum Nachdenken brachte einen auch die Aufgabenstellung selbst. Doch waren es keine Reflexionen über das Verhältnis von visueller und klanglicher Kunst, die sich aufdrängten. Es wollten sich auch keine Exkurse zum Thema «Kunst über Kunst» Luft verschaffen. Aufmerksamkeit erregte schlicht die Tatsache, dass sich acht der zehn Nominierten dieselbe Fotoreihe als Gegenstand ihres Gestaltungswillens ausgesucht hatten. Find a way or make one der in Genf lebenden Fotografin Anastasia Mityukova ist von der Geschichte des Nordpolforschers Robert Peary inspiriert. Der selbsternannte Erstbegeher des Nordpols hatte Route und Erfolg seiner Reise fingiert. Daran angelehnt ist Mityukovas Fotoserie eine fiktive, in der Schweiz entstandene Dokumentation einer Polarexpedition. Bezeichnend war nun, wie die am Schlusskonzert beteiligten Komponisten ihre Wahl begründeten. Bei allen kristallisierte sich als Quintessenz heraus, sie seien vom Gegensatz Bewegung – Statik fasziniert gewesen. Eine Mehrzahl der Teilnehmer näherte sich der Aufgabe also vom allgemeinsten möglichen Punkt her. Bewegung – Statik ist ein Gegensatz, der unsere Existenz (Leben – Tod) durchzieht und jeglicher Kunst sowohl als Problem als auch Antrieb innewohnt. Es wurde demnach kein spezifischer Anknüpfungspunkt gesucht, sondern diejenige Fotoserie gewählt, die dem eigenen Komponieren die grösstmögliche Freiheit gewährt. Das ist nicht grundsätzlich zu kritisieren, stellt aber die Relevanz der Aufgabe in Frage.
Von Verletzungen oder Proportionen ausgehen
Wie auch immer, im Endergebnis gewannen die Werke zu Mityukovas Schelmenstück den Publikumspreis und die Plätze zwei und drei. Mit ICE_one_h des italienischen Malers und Komponisten Valerio Rossi schaffte es eine Musik zuunterst aufs Podest, deren zarte Unaufgeregtheit einer weniger aufmerksamen Jury vielleicht entgangen wäre. Rossis feine, durchs Orchester wandernde und sich wandelnde Klangwesen wirkten im Umfeld eines Wettbewerbs dann aber wohl doch zu versponnen, um sich ganz oben durchsetzen zu können. Ganz im Gegensatz zum zweitplatzierten Favoriten des Rezensenten. Chasing Ice der 1986 in Turin geborenen Annachiara Gedda überzeugt durch eine ungemeine Farbigkeit, einen starke Gegensätze vereinenden Reichtum. «Neue» Klänge treffen auf Zirkus, Aggression auf Zärtlichkeit, Schalk auf Pathos. Dass das breite Ausdrucksspektrum dabei nicht auseinanderfällt, ist dem Klangsinn der Komponistin zu verdanken, welche die Möglichkeiten des Orchesters treffsicher einzusetzen weiss.
Es ist am Ende bezeichnend, dass der erste Preis an eine Komponistin ging, die eben gerade nicht Mityukovas Bilder ausgewählt hatte. Adél Koleszárs Fotoserie Wounds of Violence, in der die idyllische Landschaft Mexikos mit den sichtbaren Narben von Missbrauch und Kartellgewalt kontrastiert wird, lässt eine Annäherung in abstrakten Kategorien nicht zu. Die Bilder von Verletzung und Schmerz werden von der in Buenos Aires geborenen Cecilia Arditto in Tissue denn auch unmittelbar in Klang übersetzt. Mikrotonale Schwingungen lassen ihn brüchig erscheinen und öffnen die Ohren für feinste Regungen. Eine kommunikative, den Hörer direkt ansprechende Komposition, der man die höchste Auszeichnung gönnt.
Und zuletzt ging auch der Sonderpreis der Jury an eine der beiden Ausnahmen von der Regel. Die junge, aus Frauenfeld stammende Verena Weinmann widmete sich einem einzelnen Bild aus Koleszárs Serie, den Hills of Torreón. Dabei zeigte sie wiederum einen anderen Ansatz, wie man mit einer Bildvorlage umgehen kann. Sie übertrug die Proportionen der Fotografie auf ein Millimeterpapier, um daraus Vorgaben für die formale Gestaltung zu gewinnen. Offenbar setzte sie dieses Konzept mit angemessenen künstlerischen Freiräumen um, denn konstruiert wirkte ihr Werk nie.