«Amazonen» in der Künstlervilla

Coronabedingt wurde das von Alvaro Schoeck und Chris Walton kuratierte Festival grösstenteils ohne Publikum vor Ort durchgeführt. Konzert, Performance und Symposium im Atelier von Schoecks Geburtshaus in Brunnen konnten per Livestream verfolgt werden.

Garten und Geburtshaus Othmar Schoecks in Brunnen mit Blick auf den Vierwaldstättersee. Foto: SMZ

 

Brunnen am Vierwaldstättersee hat schon etwas Theatralisches, wie es so dem Wasserspiegel als Bühne und den Bergen als Kulisse gegenüberliegt. Wer möchte, kann im Auf und Ab der Gipfel Tonhöhen erkennen oder im Auf und Ab der Wellen bei Föhnsturm eine rhythmische Form. Unberührt von den dramatischen Veränderungen des Ortsbildes im letzten Jahrhundert liegt die Villa Schoeck auf dem Gütsch leicht erhöht mit Seesicht. Kein Wunder, dass Othmar Schoeck vom Musiktheater fasziniert war, mit derlei Bildern vor Augen.

Mit dieser Ausgabe hat ein neuer Zyklus des Schoeck-Festivals in Brunnen begonnen. Der Trägerverein hat sich die Aufgabe gestellt, mit einem nun jährlich stattfindenden Festival das Werk Othmar Schoecks in grössere Zusammenhänge einzubetten. Diesmal ging es um Frauenbilder bei Schoeck und im Musiktheater des 19. und 20. Jahrhunderts. Der Festivaltitel «Amazonen» verwies mit einem Augenzwinkern auf eine besonders rätselhafte Figur der Weltliteratur und auf eine geradezu avantgardistische Oper des Brunner Komponisten: Penthesilea, 1927 in Dresden uraufgeführt und seither regelmässig im Repertoire namhafter Opernhäuser zu finden. Aber es sollte auch um einen Ausblick auf Frauen in künstlerischen Berufen in Zusammenhang mit der #MeToo-Bewegung gehen. Das Festival hätte noch viele Tage länger dauern können, ehe alle Stichworte ausgebreitet wären.

Dass sich der Vereinsvorstand bei der Festivalvorbereitung und -durchführung von coronabedingten Unwägbarkeiten nicht ausbremsen oder gänzlich stoppen liess, ist ihm hoch anzurechnen. Der Verzicht auf Publikum war eine Anpassung, die sich sehr unmittelbar auf das Budget auswirkt. Die Übertragung per Livestream stellte hohe technische Anforderungen. Und dennoch: Die Künstlerinnen hatten Gelegenheit zum Spielen und der schöne thematische Schwerpunkt geriet auch nicht in den Hintergrund. Im Gegenteil. Ein Bravo für die Festivalmacher vornweg.

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Zum Auftakt ein Ständchen: Die Musikgesellschaft Brunnen spielte unter der Leitung von Michael Schlüssel Schoecks «Militärmarsch» aus den Fenstern der Künstlervilla. Foto: SMZ

 

Brunnen und seine Bewohnerinnen und Bewohner waren aktiv einbezogen. Beim Auftakt der Musikgesellschaft und bei Erkundungen des Dorfes auf den Spuren bemerkenswerter Frauen gab es alltagsgeschichtliche Ergänzungen zum Festivalschwerpunkt.

Konfrontation und Vermischung im Konzert

Mit Spannung erwartet war der musikalische Höhepunkt des Festivals am Samstagabend. Werke des zeitgenössischen Komponisten Stefan Keller traten in den Dialog mit Kompositionen von Othmar Schoeck. Es erwies sich als gute Entscheidung der Festivalintendanz, der Gegenwartskunst Raum zu geben. Stefan Kellers Drei Lieder nach Gedichten von Unica Zürn (Uraufführung), Schaukel (2015) und Stück für Klavier (2009) klangen aufregend und wurden mit grosser Eindringlichkeit und Virtuosität dargeboten. Truike van der Poel, am Flügel begleitet von J. Marc Reichow, setzte mit der warmen Klangfarbe ihrer Stimme starke emotionale Akzente, sowohl für die Lieder des Unica-Zürn-Zyklus wie für die drei Schoeck-Lieder nach Gedichten von Keller, Storm und Eichendorff op. 35. Überzeugend auch das Trio mit Rafael Rütti (Klavier) Mateusz Szczepkowski (Violine) und David Schnee (Viola), das die rhythmische Spannung der Musik Stefan Kellers kongenial mit dem Schoeck-Œuvre (Andante Es-Dur, Violinsonate op. 46, Consolation und Toccata op. 29) verband.

Alvaro Schoeck, ein Grossneffe des Komponisten, sorgte mit der Programmzusammenstellung für eine kleine Sensation. Unglaublich, wie die Stücke zueinander und zu ihrem Aufführungsort in Resonanz traten. Sie werden wahrscheinlich nie wieder so klingen wie dort und in diesem Dialog aus Konfrontation und Vermischung.

Die Aufführung im Atelier der Schoeck-Villa war eine Notlösung als Folge der Corona-Einschränkung, wobei die Musik verborgene und exklusive Bezüge zum Raum offenlegte (teilweise ist sie ja auch hier entstanden). Ganz nebenbei zeigte sich die hervorragende Akustik und kammermusikalische Eignung des Ateliers. Bleibt zu hoffen, dass das Konzert via Livestream sein Publikum erreicht hat. Und ebenso, dass dieser geschichtsträchtige Ort und die Villa als Ganzes erhalten bleiben, ein Wunsch, dessen Tragweite ganz am Ende des Festivals in einem Podiumsgespräch weiter skizziert wurde.

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Podiumsgespräch zur Zukunft der Villa Schoeck
v.l.: Chris Walton (Musikhistoriker, Schoeck-Biograf), Monika Twerenbold (Kantonale Denkmalpflege), Christoph Dettling (Architekt, Moderation), Roger Aeschbach (Szenograf), Josias Clavadetscher (Kulturkommission Gemeinde Ingenbohl). Foto: SMZ

Witz und Wagemut in der Wunderkammer

Die Performance heimatLOS wurde an zwei Abenden gezeigt und führte zurück zum thematischen Schwerpunkt. Eine Sprecherin (Stephanie Gossger), eine Sängerin (Anna Schors), eine Pianistin (Hélène Favre-Bulle) und Frauen, die auf die eine oder andere Art Musikgeschichte geschrieben haben, standen plötzlich im Raum, darunter Fanny Mendelssohn und Clara Schumann, Pauline Viardot und Ethel Smyth, Cécile Chaminade und Alma Mahler. Wagemutige Kombinationen, eingebettet in Textfragmente von Colette, der vielseitigen Varietékünstlerin, Autorin und leidenschaftlichen Kämpferin für Frauenrechte. HeimatLOS spielt virtuos mit Stimmen von Künstlerinnen des 19. und 20. Jahrhunderts, die mit ihrem Anspruch auf ein Bühnenleben gerungen haben, subjektiv, schmerzvoll, witzig und souverän. Was bei Colette funktionierte und in ihrem gefeierten Lebensabend im Pariser Palais Royal gipfelte, ist für junge Frauen heute trotz Gleichberechtigung herausfordernd.

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Performance «heimatLOS» im Künstleratelier. Gemeinsam mit Regisseurin Tamara Heimbrock entwickelten Anna Schors (vorne), Stephanie Gossger (oben) und Hélène Favre-Bulle ein auf den Raum zugeschnittenes Spiel. Foto: SMZ

 

Man darf der Regisseurin Tamara Heimbrock dankbar sein für ihren Mut, ihre Belesenheit und ihre gute Handbibliothek, die den Assoziationsreichtum von heimatLOS grundierten. Die Lyrik- und Liedtexte waren nicht bloss Stimmungsbilder, sondern ein System von Verweisen auf Frauen, die ihrerseits jeweils ein ganzes Universum abbildeten. Neben Colette standen Marlene Dietrich (ihr berühmtes Lied Wenn ich mir was wünschen könnte preist den Verzicht auf Erfüllung als eigentliches Geheimnis des Lebensgenusses), Pauline Viardot, (die gefeierte Diva der Belle Epoque und Muse Turgenjews) und Mascha Kaléko (als Jüdin erfuhr sie eine besonders tragische, aber stoisch ertragene Unbehaustheit, die ihre Lyrik mit nicht enden wollender Wärme und Zärtlichkeit erfüllte). Eine andere Spur führte zur Komponistin Judith Weir, die als Master of the Queen’s Music grösstmögliche professionelle Anerkennung errang. Ein Sammelsurium? Aber ja. Genau das entspricht dem Wunderkammer-Prinzips des Atelierraumes, der von den Künstlerinnen mit Witz und Wagemut bespielt wurde. Hinweise auf die eigene Geschichte der Darstellerinnen waren als Film einmontiert und zeigten deren Leben heute: Berliner U-Bahn statt Palais Royal, Birkenhain im Mauerpark statt aristokratischer Landsitz und die Vibration einer Eisenbahnbrücke statt Walzerrausch im Ballsaal des Savoy.

Zwischen Musiktheorie und Aufführungspraxis

Tagsüber war das Atelier zwei Mal Treffpunkt internationaler Musikwissenschaft, in physischer Präsenz und virtuell. Ein hochkarätig besetztes Symposium in Kooperation mit dem Musikwissenschaftlichen Institut der Universität Zürich (Inga Mai Groote, Leitung Podiumsdiskussion) und der Mariann Steegmann Foundation beschäftigte sich unter der Leitung von Merle Tjadina Fahrholz mit Frauenstimmen und Frauenrollen in der Oper des 19. und 20. Jahrhunderts (Programm und CVs der Teilnehmerinnen unter https://schoeckfestival.ch/wp-content/uploads/2020/08/frauen-stimmen.pdf). Sehr gelungen war die Balance zwischen Musiktheorie und Aufführungspraxis.

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Internationales Symposium «Frauen:Stimmen – Rollen und Persönlichkeiten»
Untertitel: «Die Oper im Wandel vom 19. und 20. Jahrhundert». Einige Referentinnen und Referenten wurden per Zoom zugeschaltet, Vorträge und Diskussionsrunden live gestreamt. Foto: SMZ

 

Beleuchtet wurde die soziale Situation weiblicher Bühnenkünstler zwischen 1870 und 1930, die Zuschreibung der Unsittlichkeit an Sängerinnen, das Dilemma des Erfolgs, denn weil Erwerbsarbeit für bürgerliche Frauen als verwerflich galt, war es der finanzielle Erfolg umso mehr. Vom Standpunkt der Moral konnte ein Künstlerinnenleben nichts anderes sein als verfehlt. Frauen erprobten individuelle Karrierestrategien, indem sie sich als Diven inszenierten oder an berühmte Namen banden, ein Beispiel ist die Bindung der Altistin Ilona Durigo (1881–1943) an Othmar Schoeck. Sie spielte als Interpretin seiner Lieder seit 1911 eine Rolle in seiner Biografie, die von der Öffentlichkeit als verbindlich wahrgenommen wurde. Die Zürcher Mäzenin Mathilde Schwarzenbach nannte die beiden denn auch ein «Musikerehepaar» (Anna Ricke).

Barbara Beyer, als Dramaturgin und Regisseurin an zahlreichen Opernbühnen im deutschsprachigen Raum praxiserprobt, gab einen Abriss von Bildern des Weiblichen von Claudio Monteverdis L’incoronazione di Poppea über Händels Alcina zu den Frauenrollen des 19. Jahrhunderts. War die Barockoper in ihrem Spiel mit Geschlechterrollen überaus experimentierfreudig – insofern sei die damalige künstlerische Praxis Vorgriff auf feministische Forschung heute –, festigten sich im bürgerlichen Zeitalter die Rollen- und Charakterbilder. Es entstanden Stereotypen, die die Frau häufig zum Opfer ihrer Liebe machten. Das Besondere daran war jedoch, dass die Seele des Mannes gerettet wurde. Im 19. Jahrhundert seien Ehe und Geschlecht wichtige Diskursthemen gewesen, berichtete Musikhistorikerin Melanie Unseld, kaum etwas anderes habe die Gesellschaft im 19. Jahrhundert so stark beschäftigt. Die natürliche Geschlechterdifferenzierung basierte auf strenger Zweiteilung, der Mann war das normale, gesetzte, die Frau das «andere» Geschlecht, schön, schwach, unzureichend.

Und Penthesilea? Schoeck war Ende dreissig, als er sich des Stoffes annahm, und was genau ihn dazu bewogen hatte, wissen wir nicht. Der blutrünstige Mord Penthesileas am arglosen Achill ist Geschlechterkampf pur, bei Kleist jedoch erscheint das Aufbegehren der Amazonenkönigin gegen eine normative gesellschaftliche Ordnung als das eigentliche Drama. Folgte ihm Schoeck darin? Er schrieb eine provozierend expressionistische Musik mit ungewöhnlicher Instrumentierung, die beim Publikum durchfiel.

Konsequent induktiv ging die Dirigentin und Vermittlerin Graziella Contratto bei der Analyse schoeckscher Frauenbilder vor: Sie bewegte sich von der kleinen Struktureinheit zur grösseren Einsicht. Indem sie nicht nur grosse Bühnenwerke, sondern auch Lieder in ihre Überlegungen einbezog, förderte sie Erstaunliches zutage: Othmar Schoeck beschäftigte sich mit Frauenfiguren, die Aussenseiterinnen waren, sei es die rätselhafte Peregrina (op. 17 Nr. 4), Landstreicherin, Heldin eines Gedichtzyklus von Eduard Mörike, sei es die gewaltbereite Venus, eine Rebellin, die ihren Verehrer physisch vernichtet, oder die furchtbare, an ihrem Überschuss an Gefühlen scheiternde Penthesilea. Dann der Wandel:«Mit der Geburt der Tochter Gisela vollzog sich nicht nur ein Wandel in der Persönlichkeit des offenbar glücklich erfüllten Vaters in seinem sozialen Verhalten, auch in der Kompositionsästhetik lässt sich z.B. in der Sternseherin op. 52/7 nachweisen, dass die Textur über mehr innere Resonanz verfügt, über eine noch sorgfältigere Betreuung der polyfonen Stimmengewebe. Ist es eine Schutzgeste, die auch zu einer Verdrängung der vergangenen Katastrophen des 2. Weltkriegs beiträgt oder einfach eine verklärende Altersperspektive, innerlich erwärmt durch die Vaterschaft?»

Das nächste Festival findet vom 10. bis 12. September 2021 statt unter dem Motto «passé composé» – Neoklassizismus in der Schweiz.
https://schoeckfestival.ch
Die Schweizer Musikzeitung war Medienpartnerin des Festivals 2020.

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