Prophet im eignen Land
Die Basler Madrigalisten heben einen in Vergessenheit geratenen Schatz des Schweizer Komponisten Benno Ammann.
Ein wenig irritiert war man schon, als Raphael Immoos am 9. Februar die Sängerinnen und Sänger bereits nach dem Gloria der Missa «Defensor Pacis» auf die vordersten Sitzreihen der Zürcher St. Peter und Paul Kirche verwies und zum Mikrofon griff. Doch es war tatsächlich erklärungsbedürftig, was die Basler Madrigalisten unter ihrem Dirigenten und künstlerischen Leiter an diesem Abend präsentierten. Eines einführenden Kommentars bedurfte nämlich bereits der Komponist des Werks, der 1904 in Gersau SZ geborene Musiker Benno Ammann. Man kann ihn mit einigem Recht als typischen Vertreter jener Propheten bezeichnen, die im Ausland mehr gelten als zu Hause. So konnte er nach dem Zweiten Weltkrieg international einige Erfolge als Dirigent feiern, was in der Schweiz jedoch wenig Nachhall fand. Weshalb er diese Karriere später aber gar nicht weiterverfolgte und sich darauf beschränkte, einige Chöre in der Region Basel zu leiten, ist unklar.
Wahrscheinlich ist, dass Ammann mehr Zeit zum Komponieren brauchte. Bis zu seinem Tod 1986 in Rom entstand nämlich ein umfangreiches Œuvre von gegen 600 Werken, dessen faszinierende stilistische Breite von der spätromantischen Harmonik seines Leipziger Lehrers Sigfrid Karg-Elert über freitonale und zwölftönige Werke bis zur Serialität reichte. Ab den Fünfzigerjahren befasste er sich dann vorzugsweise mit elektroakustischer Musik, für deren Realisation er bis zuletzt die elektronischen Studios von Rom bis New York bereiste.
Einer weiteren Erklärung bedurfte dann das Werk selbst. Die Missa «Defensor Pacis» (Verteidiger des Friedens) zu Ehren Niklaus von Flües entstand unmittelbar nach dem Krieg und wurde anlässlich der Heiligsprechung von Bruder Klaus in der Sixtinischen Kapelle uraufgeführt, was einer mittleren Sensation gleichkam. Leider folgte diesem triumphalen Beginn postwendend der Absturz: Das Werk verschwand in der Versenkung und wurde erst jetzt wieder gehoben – es erlebt dieses Jahr in acht Konzerten seine Schweizer Erstaufführung.
Zwischen Strenge und Sinnlichkeit
In der Einführung erklärte Raphael Immoos die Wiederentdeckung dieses Werks zu einer Sensation, das Stück für gleichbedeutend wie Frank Martins ebenfalls lange unentdeckt gebliebene Messe. Aber auch wenn Immoos im Umgang mit unbekannten Stücken, deren Erforschung und Wiederbelebung, über viel Erfahrung verfügt, so wird sich eine so hochgegriffene Prognose erst noch bestätigen müssen. Das Zürcher Konzert zeigte jedoch: Ammanns Missa «Defensor Pacis» ad 6–12 voces inaequales ist ein eindrückliches Werk, das den Vergleich mit Martin nicht zu scheuen braucht.
An die Flämische Renaissance und den Palestrina-Stil gemahnend, bewegt es sich im tonalen respektive modalen Raum, lässt seine Modernität im Kyrie und Gloria lediglich in gelegentlichen Dissonanzen aufblitzen. Trotz aller komplexer Linearität fügen sich die Stimmen aber immer wieder zu modern wirkenden Klangflächen zusammen. Ab der Mitte des Werks, dem Offertorium, dem Gebet des heiligen Niklaus von Flüe, ändert dann der Tonfall. Was zuvor stellenweise noch streng gestaltet daherkam, wird plötzlich eingängig, sinnlicher. Beinahe mythische Klänge bestimmen jetzt das Werk. Einzelne Stimmen erheben sich wie Anrufungen aus dem Ganzen und lassen das Individuum hervortreten. Besonders das Agnus Dei mit seiner das Werk beschliessenden, eindringlichen, Ruhe und Frieden ausstrahlenden Dona-nobis-pacem-Beschwörung, liess einen bewegt zurück.
Die starke Wirkung war auch der Leistung der Basler Madrigalisten zu verdanken. Sie bewältigten die schwierige, mit vielen heiklen Einsätzen gespickte Partitur souverän in Rhythmik und Intonation, blieben auch in der Vielstimmigkeit klar durchhörbar und verständlich. Mit zunehmender Vertrautheit wird sicher auch die eine oder andere Stelle noch etwas geschmeidiger gemeistert werden.
Die zweite Einführung des Abends galt eigentlich dem Werk des 1822 in Lachen geborenen Komponisten Joachim Raff, von dem unter anderem ein Fragment uraufgeführt wurde. Immoos Rede geriet aber zum leidenschaftlichen Plädoyer für die Schweizer Musik, die hierzulande viel zu wenig Anerkennung fände. Dabei sei zum Beispiel Raffs ebenfalls aufgeführtes Pater Noster durchaus mit Verdis Pendant vergleichbar. Und auch wenn man letztere Einschätzung nicht ganz zu teilen vermag, so wirken Immoos’ Begeisterung und Einsatz für das stiefmütterlich behandelte Schweizer Musikerbe ansteckend – über den Abend hinaus! Die Basler Madrigalisten nehmen nächstes Jahr nicht nur eine CD-Produktion von Ammanns Messe in Angriff, bei den Hug Musikverlagen wird sie zudem auch neu aufgelegt und somit anderen Chören zugänglich gemacht. Es wäre schön, wenn diese Initiative eines Spitzenensembles dem Werk tatsächlich zu mehr Breitenwirkung verhelfen würde. Zumindest für ambitionierte Laienchöre könnte die Beschäftigung mit der Missa «Defensor Pacis» zum lohnenden Wagnis werden.