Zurückgebeamt in den Sozialismus
Mit Konzert, Film und Diskussion blickt das Collegium Novum Zürich auf die Musikszene der DDR zurück.
So geht Zeitreise: Am Freitag bin ich noch tief im deutschen Osten, in der alten Residenzstadt Dresden bei den leutseligen und traditionsbewussten Sachsen, die sich partout nicht dem «Wessisprech» anpassen wollen und das Verdikt der fernen Westmedien, sie seien für den Faschismus anfällig, freundlich lächelnd wegstecken. Am Samstag dann der Flug mit der Swiss aus dem ehemaligen Tal der Ahnungslosen (kein Westfernsehen) direkt auf die heutige Insel der Glückseligen (präzedenzloser Wohlstand). Doch hier werde ich gleich wieder um dreissig Jahre in eben jenes Tal und die angrenzenden Gebiete zurückgebeamt, die damals noch keine blühenden Landschaften waren. Da finde sich einer noch zurecht.
Ziel der Zeitreise war das Radiostudio Zürich mit der sechsstündigen Veranstaltungsreihe des Collegium Novum Zürich (CNZ) «… und der Zukunft zugewandt …» (eine Zeile aus der DDR-Nationalhymne). Thema war das, was bis 1989 «DDR-Musik» oder allgemein «DDR-Kultur» hiess und heute nur noch Gegenstand von Erinnerung ist – verbunden je nach Gesichtspunkt mit Erleichterung oder mit nostalgischen Gefühlen. Beides schwang im umfangreichen Programm mit zwei Konzertblöcken, zwei Filmen und einer Podiumsdiskussion mit. Der Abend trug die Handschrift des noch in der DDR geborenen Jens Schubbe, der nun nach neun Jahren die Leitung des CNZ an Johannes Knapp abgibt und nach Deutschland zurückkehrt, um bei der Dresdner Philharmonie als Dramaturg zu arbeiten. In Dresden wurde das Konzert in der Zürcher Besetzung inzwischen wiederholt – am symbolbeladenen Datum des 9. November.
Wenn eine ganze Kultur unter die Räder kommt
Er möchte mit diesem Projekt ein Bewusstsein für Historizität schaffen, sagt Schubbe. Seine Idee: Eine über Jahrzehnte gewachsene Kulturlandschaft sollte trotz ihren eklatanten Problemen und Widersprüchen nicht einfach im Orkus der Geschichte verschwinden. Tatsächlich ist die zeitgenössische Musik der DDR nach der Wende 1989 auf ähnliche Weise abgewickelt worden wie die Wirtschaft; der kapitalstarke westdeutsche Kulturbetrieb hat einiges davon integriert, das meiste aber beiseitegeschoben und damit dem Vergessen überantwortet.
Vieles, was in diesem deutschen Sozialismus produziert wurde, ist zu Recht untergegangen. Von Staatskunst mit populistischen Maximen und stupiden, wenn auch fortschrittlich verkleideten Erziehungsparolen wie einst bei Hitler und Stalin hatten viele DDR-Bürger die Nase voll. Die etwas Wacheren unter den Komponisten fühlten sich ohnehin andauernd gegängelt. Daran änderte sich grundsätzlich auch nichts, wenn eine parteioffizielle Autorität wie Paul Dessau sein Prestige in die Waagschale legte, um den unzufriedenen Nachwuchs hin und wieder gegen sture Kulturfunktionäre zu verteidigen.
Als dann in den Siebzigerjahren die Sozialistische Einheitspartei (SED) die Vorgaben für die Künstler ein wenig lockerte, entstand das, was als «DDR-Avantgarde» auch im Westen Aufmerksamkeit erregte: Werke, in denen die knappen Freiräume zur Entfaltung der individuellen Kreativität genutzt und sogar erweitert wurden. In ihnen manifestiert sich die für die Kunst in einer Diktatur charakteristische Dialektik von erzwungener Anpassung und verschlüsselt formuliertem Widerstand. Zu den Protagonisten dieser Entwicklung zählten etwa die aufmüpfigen, mit dem Leipziger Ensemble «Neue Musik Hanns Eisler» verbundenen Komponisten Friedrich Goldmann und Friedrich Schenker, die Berliner Georg Katzer, Paul-Heinz Dittrich und Reiner Bredemeyer und, mit stärker konservativem Einschlag, auch Udo Zimmermann in Dresden.
Widerstand und Abgesang
Stellvertretend für das Schaffen dieser Generation brachte das Collegium Novum unter Jonathan Stockhammer nun drei bedeutende Werke zur Aufführung. Die Kammermusik II von Paul-Heinz Dittrich von 1973, ein energiegeladener, streitbarer Dialog zwischen Tonband und kleinem Ensemble, enthält mit denaturierten Klängen, Mikrotönen und bedingungslos subjektivem Tonfall alles, was in der DDR damals noch als westliche Dekadenz galt. La fabbrica abbandonata III von Georg Katzer von 2010 ist eine postmoderne Antwort auf Luigi Nonos revolutionäre Komposition La fabbrica illuminata und zugleich ein symbolstarker Abgesang auf ein bankrottes Gesellschaftssystem. Das Stück basiert auf einem Text von Wolfgang Hilbig aus den Siebzigerjahren, der den industriellen Zerfall in der DDR in eine gespenstische Untergangsvision packt. Der lange erste Teil ist ein beschreibendes Monodram (Sprecher: Peter Schweiger), der Schluss mit seiner exponierten Sopranpartie ein Stück surreale Poesie (mit akrobatischer Präzision: Catriona Bühler).
Als drittes Werk erklang die Sonata a quattro, komponiert 1989 von Friedrich Goldmann. Das Stück für viermal vier Instrumente exponiert die Instrumentenfamilien Holz- und Blechbläser, Streicher und Schlagzeug in ihrer spezifischen Klanglichkeit und mischt sie schrittweise zu immer neuen Konstellationen. Der latente Formalismus dieser Anordnung wird konterkariert durch eine Vielzahl an Farben und einen orgiastischen Tuttimoment. Mit seinem raumgreifenden Gestus nimmt das Werk deutlich hörbar Abschied von der Enge der Vergangenheit.
Desertiert in Boswil
Einer, dem das bisschen Freiraum in der DDR nicht reichte, war Wilfried Jentzsch. Er nutzte 1973 einen Aufenthalt im Künstlerhaus Boswil, damals einer der wenigen von den SED-Kulturoberen akzeptierten Auftrittsorte für DDR-Avantgardisten im Westen, um sich aus dem Arbeiter- und Bauernparadies zu verabschieden. Nun war er in Zürich zu Gast und schilderte im Gespräch mit Jens Schubbe und Johannes Knapp anschaulich die damalige Situation und die Beweggründe der Flucht.
Jentzsch verzichtete auf die existenzsichernde Zusammenarbeit mit sogenannten Kulturbrigaden aus den Betrieben – die Partei hatte das unter der Bezeichnung «Bitterfelder Weg» zur kulturpolitischen Richtlinie gemacht – und schlug sich lieber auf dem freien Markt im Westen durch. In Paris kam er in Kontakt mit Xenakis und begann elektronische Musik zu komponieren. Dann, nach der Wende, die Heimkehr in ein fremdes Land, das doch irgendwie gleich geblieben war: Die Musikhochschule Dresden berief ihn zum Leiter des Elektronischen Studios. Von Jentzsch wurde in Zürich die Komposition Tamblingan für elektronische Klänge und Videoprojektion vorgestellt, in der digitale Klangsignale und abstrakte Pixelbilder korrelieren.
Surreale Bilder aus einer freudlosen Gesellschaft
Zwei Filme des 2017 verstorbenen DDR-Filmemachers Frank Schleinstein ergänzten das Programm. Erdspiel (1990) ist ein beklemmender Rückblick auf eine freudlose Gesellschaft. Nachkriegselend, marode Industrielandschaften, eine sterile Öffentlichkeit und die Suche des Ichs nach einem lebenswerten sozialen Ort werden zu surrealen Bildfolgen verdichtet. Ein Porträtfilm über Friedrich Goldmann gibt trotz mancher Mängel – oft wurden einfach Tonbandinterviews mit Bildern unterlegt – einen guten Einblick in die damalige Kulturszene. Auch Prominenzen kommen zu Wort. Die Regisseurin Ruth Berghaus erzählt etwa, dass bei Goldmann oft Musiker verkehrten, die sich in ihrem Land «nicht wohl fühlten». Sie nennt Henze und Nono, unterschlägt aber, ganz Nomenklaturakünstlerin, die Komponisten im eigenen Land. «Wir da oben, ihr da unten»: Das war eben auch im Sozialismus nicht unbekannt.