Aus dem Saanenland nach Paris

Das Gstaad Menuhin Festival gilt als das zweitgrösste Musikfestival der Schweiz. Schon am Eröffnungswochenende musizierten Berühmtheiten in verschiedenen Formationen.

Konzert am 21. Juli: Sol Gabetta mit Pierre Bleuse und dem Kammerorchester Basel. Foto: Raphael Faux

Die Kirche in Saanen ist bis auf den letzten Platz besetzt. Auch im mit Fresken bemalten Chorraum, wo ein brauner Bösendorfer-Flügel steht, sitzen Zuhörer. Kaum spielt András Schiff die ersten Töne von Johann Sebastian Bachs Zyklus Das wohltemperierte Klavier, Band 1, wird aus dem Konzertpublikum eine andächtige Gemeinde. Viele der 750 Konzertbesucher haben die Augen geschlossen, um der subtilen Interpretationskunst des ungarischen Pianisten zu lauschen. András Schiff ist niemand, der das Rad neu erfindet. Er mag Nuancen mehr als Kontraste, entwickelt das eine aus dem anderen und achtet bei der Musik Bachs auf den natürlichen Fluss. Die Bässe im D-Dur-Präludium deutet er nur an, das Es-Dur Präludium spielt er so frei wie eine Fantasie. Die Fugen werden nicht buchstabiert, sondern immer in grösseren Zusammenhängen erzählt. Auch im Kontrapunkt entdeckt Schiff die Melodie und hält bei dieser langen Wanderung durch die Tonarten die Spannung bis zum umjubelten Ende.

Die meisten Konzerte des sieben Wochen dauernden Gstaad Menuhin Festivals finden in den Kirchen des Saanenlandes statt und ermöglichen eine besondere Nähe zwischen den Interpreten und dem Publikum. Seit Christoph Müller 2002 das von Yehudi Menuhin gegründete Festival übernommen hat, haben sich die Zuschauerzahlen verdreifacht. Dieses Jahr sind mit der Kirche und der Mehrzweckhalle an der Lenk im Simmental zwei neue Säle zu den nun insgesamt elf Konzertorten dazugekommen. Aber der umtriebige Intendant hat auch verschiedene Akademien gegründet, die junge Musikerinnen und Musiker in den Bereichen Gesang, Klavier, Streicher, barocke Aufführungspraxis und Dirigieren weiterbilden. Das Nebeneinander von Nachwuchskünstlern und Stars, von intimen Kammerkonzerten und grossen sinfonischen Auftritten im 1800 Zuhörer fassenden Festivalzelt Gstaad macht den Reiz dieses Festivals aus, laut Intendant des zweitgrössten in der Schweiz, das circa 60 Konzerte veranstaltet und 2019 über einen Etat von 6.7 Millionen Franken verfügt.

Die Kapelle in Gstaad ist mit nur 120 Plätzen ein besonders kleinräumiger Konzertort. Wie in der Kirche Saanen ist auch hier die Akustik transparent und hat kaum Nachhall, so dass man jedes musikalische Detail verfolgen kann. Die harten Kirchenbänke verlangen dem Publikum bei diesem einstündigen Morgenkonzert ein wenig Askese ab – aber die wird belohnt. Franz Schuberts Sonate (Duo) in A-Dur op. 162 gestalten Dmitry Smirnov und Denis Linnik mit schlichter Tongebung und kammermusikalischer Dichte. Béla Bartóks rhythmisch vertrackten ersten Rhapsodie verleihen die beiden perfekt aufeinander eingespielten jungen Musiker die notwendige Farbigkeit. Nur in Robert Schumanns erster Violinsonate wünscht man sich von Dmitry Smirnov einen weniger gepressten Ton; dem Pianissimobeginn des zweiten Satzes fehlt das Geheimnisvolle. Aber wie schwerelos der Geiger an der Bogenspitze die Sechzehntel zu Beginn des Finales realisiert und Denis Linnik am Klavier ihm dabei wie ein Schatten folgt, begeistert zu Recht das Publikum.
 

Festivalmotto Paris

Im Samstagabendkonzert des Eröffnungswochenendes spiegelt sich das diesjährige Festivalmotto in Programm und Besetzung. Hervé Niquet ist mit seinem Pariser Originalklangensemble Le Concert Spirituel nach Saanen gekommen, um Musik des Barockkomponisten Marc-Antoine Charpentier vorzustellen. Mit den festlichen Klängen der Ouvertüre zu Le Malade imaginaire beginnt Niquet den gut besuchten Abend, bevor er auf Französisch eine kleine Einführung in die Zeit des Sonnenkönigs gibt. Im deutschsprachigen Raum kennt man von Charpentier nur die dem Te Deum entnommene Eurovisionshymne. Wenn Chor und Orchester wie bei der Motette In Honorem Sancti Ludovici regis Galliae Canticum im Fortissimo schmettern, dann kommt die für Kammermusik bestens geeignete Akustik in der Kirche Saanen jedoch an Grenzen. Das Blech knallt, die Pauken dröhnen. Aber abgesehen von den zu scharfen Klangspitzen entfaltet diese überwiegend homofone Musik grossen Reiz, auch wenn sie kaum Dramatisches in sich trägt. Die vielen klangfarblichen Kontraste in den Motetten und der Wechsel zwischen dem gut ausbalancierten Chor und den schlanken Vokalsoli gelingen differenziert. Das abschliessende, ganz tänzerisch genommene Te Deum zeigt die sinnliche Prachtentfaltung am französischen Hof.

Auch Sol Gabetta hat am Folgeabend mit dem zweiten Cellokonzert von Camille Saint-Saëns ein selten aufgeführtes Werk eines französischen Komponisten dabei. Bereits seit 2003 ist die Argentinierin regelmässiger Gast in Gstaad. Ihr heller, flexibler Celloton passt gut zum lichten Solokonzert. Das Kammerorchester Basel begleitet unter der Leitung von Pierre Bleuse hinhörend und aufmerksam. Bruno Soeiros viersätzige Komposition Sillages, Sons de Parfums mangelt es leider an musikalischer Substanz. Es liegt aber auch an der fehlenden Raffinesse der Interpretation, dass bei dieser Uraufführung die musikalischen Duftwolken nicht verführen. Bei Georges Bizets Sinfonie C-Dur dagegen bewegt sich das Kammerorchester Basel auf vertrautem Terrain. Der warme Streicherklang verzaubert, die beweglichen Holzbläser haben Grazie. Und aus dem an Mendelssohn erinnernden, virtuosen Finale macht das Orchester eine echte Charmeoffensive.

Das Festival dauert noch bis am 6. September.
 

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