«Ein himmlisch’ Werk» – sehr menschlich

Das Museum Fram in Einsiedeln zeigt derzeit die musikalischen Schätze der Musikbibliothek des Klosters Einsiedeln. Sie stammen aus über tausend Jahren und zeichnen das Musikleben des Benediktiner Klosters in unerwarteten Facetten. Der Autor unseres Berichts war Einsiedler Stiftsschüler von 1963 bis 71 und erlebte selbst Einiges dieser Geschichte hautnah mit …

Vitrine mit dem Faksimile des Codex 121. Foto: Museum Fram

Pater Roman Bannwart, links von mir sitzend, schiebt den Regler nach unten; im Saal geht das Licht aus. Der «Saal» ist die Turnhalle der Stiftsschule Einsiedeln, die Zeit: Fasnacht 1966. Das Orchester spielt ein Musikstück, das ich inzwischen «Ouvertüre» zu nennen gelernt habe. Es ist die erste Ouvertüre in meinem Leben – und sozusagen auch die letzte. Und sie eröffnet Franz Schuberts Singspiel «Die Zwillingsbrüder». Ich sitze rechts von Pater Roman im Souffleurkasten und habe den Sängern in den Sprechpartien ihre Stichworte zu liefern.

Operntradition

Was Pater Roman nicht weiss und ich noch weniger: Mit der Fasnachtsoper von 1966 – neben den Zwillingsbrüdern wird noch Schuberts Einakter Der vierjährige Posten gespielt –, geht eine lange Tradition zu Ende. Es ist die Tradition der Opernaufführungen im Kloster, die seit 1808 im Kloster dokumentiert ist. Die opernbegeisterten Mönche und unter ihrer Anleitung die Schüler des Gymnasiums wagten sich an Vieles: so an Mozarts Entführung aus dem Serail (1833), an Donizettis Regimentstochter (1860) oder an Aubers Die Stumme von Portici (1890). Allerdings: Aus dem Liebesdrama der Entführung wurde eine Vater-Sohn-Geschichte (Die türkischen Kadeten), aus der Regimentstochter wurde ein Regimentsbursche, aus der Stummen ein Stummer – allzu viel vom anderen Geschlecht sollte den Mönchen und Schülern auf der Bühne wohl nicht vorgeführt werden. In späteren Jahren unterblieb dieses drastische «re-writing»; die beiden Opern, die ich noch erlebte, wurden mehr oder weniger im Original gespielt, natürlich mit Knaben in den (weiblichen) Sopran- und Altpartien. Auch Pater Roman – damals als Choralmagister in der ganzen Schweiz bekannt – agierte nicht immer nur als Chefbeleuchter: Eine Foto der Ausstellung zeigt ihn 1937 in der Hauptrolle einer Oper von Albert Lortzing.

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Aus der Regimentstochter wurde ein Regimentsbursche. Foto: Museum Fram

Im Jahr vor Schubert und somit als zweitletzte Opern kam 1965 das Stück eines damals so gut wie unbekannten Komponisten auf die Bühne. Es hiess Orfeo und stammte von einem gewissen Claudio Monteverdi – merkwürdige Musik! Rund 20 Jahre später sollte ich am Opernhaus Zürich die Aufführung von Nikolaus Harnoncourt erleben –, und manche Melodien der Oper kamen mir merkwürdig vertraut vor. Die Rolle des Plutone sang in der Einsiedler Aufführung ein Student namens Arthur Helg – als Pater Lukas Helg ist er heute einer der beiden Kuratoren der Ausstellung.

Geistliche Musik

Und die Oper hatte ihren Platz nicht nur auf der Bühne, sondern auch im klösterlichen Gottesdienst: Gern führte man dort Bearbeitungen von Passagen aus Mozarts Opern auf – die gleiche Musik mit einem neuen, geistlichen Text. Die hauseigenen Komponisten waren in dieser Art der Aneignung sehr geschickt und – man muss es nüchtern sehen – auch ziemlich bedenkenlos. Der Gregorianische Choral dagegen, heute für uns das «Markenzeichen» des klösterlichen Gottesdienstes, wurde damals kaum mehr gesungen.
Eine merkwürdige Geschichte hat auch das emblematische Musikstück des Klosters, das mehrstimmige Einsiedler Salve Regina, das die Mönche täglich in der Gnadenkapelle singen. Das Stück existiert in unterschiedlichen Bearbeitungen des gregorianischen (einstimmigen) Originals; und gerade die Fassung nur für Männerstimmen, die heute regelmässig vor der Gnadenkapelle erklingt, ist musikalisch nicht unproblematisch, denn vorgesehen wäre eigentlich eine Oberstimme für Sängerknaben.

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«Einsiedler Salve Regina». Foto: Museum Fram

Neben Pater Roman war unser zweiter Musiklehrer und der Kapellmeister des Klosters Pater Daniel Meier; er spielte übrigens 1937 die Knusperhexe in Engelbert Humperdincks Hänsel und Gretel. Er nun vergass, mit unserem Jahrgang der Sängerknaben das Salve richtig einzuüben, und tadelte nach einiger Zeit ungehalten unser immer noch unsicheres Mitsingen. So sang ich das «Salve» zwar gern – sein volltönig orgelnder Klang hatte im Innern der Gnadenkapelle etwas Überwältigendes –, aber noch lange etwas zaghaft …

Kloster-Komponisten

Pater Daniel Meier (1921–2004) war mehrere Jahre lang Kompositionsschüler von Paul Hindemith in Zürich; Grusspostkarten mit Hindemiths eigenen Zeichnungen bezeugen sogar eine Art Freundschaft. Pater Daniel zählt zur stattlichen Anzahl der Kloster-Komponisten (insgesamt über 30), von denen manche mehrere hundert Werke komponierten; der bisher jüngste ist der ebenfalls sehr produktive Pater Theo Flury (*1955). Hier zeigt sich eine besondere Entwicklung der Musikgeschichte: Bis ins 19. Jahrhundert komponierten auch bedeutende Komponisten noch geistliche Musik, die von talentierten Amateuren aufgeführt werden konnte und von den Klostermusikern denn auch gern aufgegriffen wurde. Mit der radikalen neuen Musik des 20. Jahrhunderts änderte sich das jedoch: Geistliche Musik, die im sonntäglichen Gottesdienst verwendbar war, wurde die Sache von Komponisten, die keinen modernen oder avantgardistischen Stil vertreten wollten, und zu ihnen zählen auch die Einsiedler Komponisten-Mönche. Ihr Schicksal ist jedoch, dass ihre «Gebrauchsmusik» im Konzertsaal kaum je gespielt wird. Aber sie komponierten dann auch nicht immer nur Frommes: Der Kloster-Hit ist bis heute ein fetziger Caecilienmarsch für drei Orgeln, den Pater Anselm Schubiger 1845 schrieb.

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«Caecilienmarsch» für drei Orgeln von Pater Anselm Schubiger. Foto: Museum Fram

Hits ganz anderer Art enthielt ein Druck von 1520, der sich ebenfalls in der Ausstellung findet: Das Liber selectarum cantionum – ein Prunkband zusammengestellt vom «Schweizer» Komponisten Ludwig Senfl – enthält 25 Werke der berühmtesten Komponisten der Hochrenaissance. Mit den meisten Werken vertreten ist Josquin Desprez und (etwas unbescheiden) Ludwig Senfl selbst. Das Merkwürdige allerdings: Der Band weist praktisch keine Gebrauchsspuren auf; die Mönche scheinen ihn eher als «Kunstobjekt» und nicht so sehr für den täglichen Gebrauch gekauft zu haben. Dem mag entsprechen, dass die beiden Werke der Renaissance, die wir im Gottesdienst regelmässig sangen, nicht etwa von Komponisten wie Josquin oder Senfl stammten. Es waren vielmehr die Missa Papae Marcelli von G. P. da Palestrina und das Requiem seines Schülers G. F. Anerio, die den Renaissance-Stil in einem etwas spannungslos-eleganten Wohlklang weiterführten.

Musikbibliothek

Gerade diesen Palestrina-Stil erklärte man im 19. Jahrhundert zum Vorbild für die Kirchenmusik – mit nicht immer ganz glücklichen Folgen. Immerhin: Nachdem man früher alles «Veraltete» als nichtwiederverwendbar skrupellos weggeworfen hatte, nahm man nun die Musik früherer Epochen wieder zur Kenntnis und sammelte sie. Auch im Kloster Einsiedeln regte sich dieses historische Interesse; es entstand eine eigentliche Musikbibliothek, deren Anfänge auf die Sammlertätigkeit von Pater Gall Morel (1803–1872) zurückgehen. So verdankt das Kloster ihm – um zwei kontrastreiche Beispiel zu nennen – eine Kostbarkeit wie Mozarts handschriftliche Skizze zu dessen Pariser Sinfonie und andererseits die Kuriosität der Pseudo-Renaissance-Madrigale des damals auf Schloss Wartensee (St. Gallen) lebenden Engländers Robert Lucas Pearsall; er schenkte dem Kloster nicht nur seine eigenen Werke, sondern auch die umfangreiche Musikbibliothek. Schenkungen dieser Art trugen dazu bei, dass die Musikbibliothek des Klosters heute eine der grössten in Europa ist.

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Mozarts handschriftliche Skizze des Andante con Moto aus seiner «Pariser Sinfonie». Foto: Museum Fram

Das Interesse an alter Musik richtete sich im späten 19. Jahrhundert dann auch auf den Gregorianischen Choral. Das Kloster besitzt mit dem Codex 121 das älteste erhaltene Graduale mit einstimmigen gregorianischen Gesängen für das ganze Kirchenjahr. Die Handschrift, in Einsiedeln vor dem Jahr 1000 geschrieben, ist in der Ausstellung (natürlich) nur als Facsimile zu sehen – aber auch dieses, mit seiner geheimnisvollen Notenschrift der Neumen, vermag ein leises Erschauern zu wecken. Wenigstens heute. Denn es wäre eine Lüge zu behaupten, dass ich den Gregorianischen Choral damals als Stiftsschüler besonders liebte; nein, er erschien mir immer als etwas langweilig-eintönig, auch wenn Pater Roman ihn uns geduldig beigebracht hatte … So kann die Vergangenheit uns auch nach mehr als 50 Jahren noch einholen.

Ausstellung

Die Ausstellung bietet eine Musikgeschichte ganz eigener Art: Vieles, das sonst wichtig ist, erscheint hier nicht; und was im Kloster wichtig war, wurde und wird ausserhalb nur gelegentlich zur Kenntnis genommen. Das macht aber gerade auch den Reiz der Ausstellung aus, zusammen natürlich mit der Fülle von Handschriften, Drucken, Biografien, Dokumenten der Zeitgeschichte, Tonbeispielen – optisch einladend präsentiert und klar in überschaubare «Kapitel» strukturiert. Dieser Struktur folgt auch eine Begleitdokumentation; und die alles andere als akademischen Führungen von Pater Lukas Helg tragen das Ihre zur Attraktivität der Ausstellung bei. Aber natürlich bleibt auch dieses und jenes offen: Warum nur kam jene Winzigst-Miniatur von 1659 mit calvinistischen (!) Psalmen ins Kloster …?

Die Ausstellung dauert vom 25. Mai bis 29. September 2019. Museum Fram, Eisenbahnstrasse 19, Einsiedeln
www.fram-einsiedeln.ch informiert über die Öffnungszeiten und Führungen

P. Lukas Helg / Christoph Riedo: Ein himmlisch Werk – Musikalische Schätze aus dem Kloster Einsiedeln. Dokumente zur Ausstellung im Museum Fram. 110 Seiten, mit zahlreichen Abbildungen

P. Lukas Helg: Das Einsiedler Salve Regina – Eine musikalische Studie. 126 Seiten, mit Notenbeispielen

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