Der gemeinsame Weg als musikalisches Ziel
Im Rahmen des alle vier Jahre stattfindenden Berliner Orchestertreffs zur Förderung des instrumentalen Amateurmusizierens probte Vladimir Jurowski am 25. Mai mit Laienmusikern Schostakowitschs Suite für Varieté-Orchester.

Es ist eine spannende und reizvolle Ausgangslage für alle Beteiligten: Im gross besetzten Sinfonieorchester befinden sich rund 100 erwartungsvolle Laienmusiker aller Alters- und Leistungsklassen. Am Pult steht kein geringerer als der renommierte Dirigent Vladimir Jurowski. Gemeinsames Ziel der rund 90-minütigen Begegnung ist das Proben dreier Sätze aus Dmitri Schostakowitschs Suite für Varieté-Orchester.
Dieses einzigartige Zusammentreffen zwischen Amateurmusikern und Stardirigent nennt sich «offene Probe» und findet im Rahmen des Berliner Orchestertreffs Ende Mai 2019 in der Landesmusikakademie Berlin statt. «Offen» heisst in diesem Falle nicht nur, dass die Probe öffentlich ist, sondern ebenso, dass sämtliche interessierten Laienmusiker zur Mitwirkung zugelassen werden, die sich zur Teilnahme am Orchestertreff des Landesmusikrats Berlin eingeschrieben haben. Der Begriff «Probe» ist ebenfalls wörtlich zu verstehen, da die Orchesterarbeit nicht wie sonst üblich in einem Konzert oder einem Wettbewerbsvorspiel gipfelt, sondern für sich steht.
Vladimir Jurowski scheint sich daran nicht zu stören, im Gegenteil. «In der heutigen Zeit, wo jeder nur noch mit seinem Bildschirm kommuniziert, ist das gemeinsame Musizieren wichtiger denn je», meint der Chefdirigent und Künstlerische Leiter des Rundfunk-Sinfonieorchesters Berlin vor Beginn der Probe. Dabei ist für ihn unerheblich, ob die Musik von Berufsmusikern, in Laienformationen oder – wie in der Familie Jurowski üblich – im Kreise der Verwandtschaft erklingt. «Amateurmusiker sind wortwörtlich ‹Liebhaber› der Musik», sinniert er. «Und genau darum geht es bei einem derartigen Orchestertreff: zusammenkommen, einander zuhören, gemeinsam Musik machen.» Er verschweigt nicht, dass er für die Arbeit mit Hobbymusikern eher ein klassisches Stück denn ein Werk seines Landsmanns Schostakowitsch ausgewählt hätte. Aber da der Wunsch nun mal im Raum steht, nimmt er die Herausforderung an und verrät: «Für mich besteht der Reiz dieser offenen Probe primär darin, vom ersten Anspielen bis zum letzten Durchspiel des Werkes einen gemeinsamen Weg zurückzulegen.» Wie dieser Weg aussehen und wo er enden würde, nun ja, auch das ist buchstäblich «offen».
Das erste Durchspiel des allseits bekannten Marsches aus der Suite für Varieté-Orchester macht denn auch schnell klar, dass dem designierten Generalmusikdirektor der Bayerischen Staatsoper nicht die höchste Perfektion entgegenbranden würde. Gewisse Aspekte, wie etwa Rhythmus oder Intonation, liessen erkennen, dass im Foyer des Freizeit- und Erholungszentrums Wuhlheide in Berlin mehrheitlich Laien musizieren – sieht man von einzelnen Stimmführern in den Streichern einmal ab, die dem Rundfunk-Sinfonieorchester Berlin angehören.
Präzise und zielgerichtet
Für die teilnehmenden Musikerinnen und Musiker ist es in der Folge äusserst faszinierend zu erleben, an welchen entscheidenden Details der in Berlin lebende Dirigent kurzzeitig, aber zielbestimmt arbeitet, um das Werk zu einem Ganzen zusammenzufügen: Mal probt Vladimir Jurowski mehrere Minuten konzentriert nur mit den Streichern, dann bittet er die Posaunen, einzelne Akkorde aufzubauen, bevor einzelne Stellen in den Alt-Saxofonen auseinander genommen oder die Trompeten in Sachen Dynamik instruiert werden. Er versteht es dabei, auch jene Musiker zu fesseln, die gerade nicht im Einsatz stehen. Immer wieder streut er spannendes Hintergrundwissen zu Schostakowitschs Situation als «geächteter Komponist» in der Sowjetunion ein oder bringt seine klanglichen Zielvorstellungen in bildreicher Sprache oder anregender Gestik zum Ausdruck.
Während einzelne Musikerinnen vorrangig an der Probe mitwirken, um Teile aus Schostakowitschs Jazz-Suite zu spielen, sind andere Orchestermusiker extra nach Berlin gereist, um einmal unter dem bekannten Dirigenten zu musizieren. Doch so divers sich die Ansprüche und Absichten aller Beteiligten zu Beginn der Probe ausnehmen mögen: Am Ende lassen sich alle im Ad-hoc-Orchester mit grosser Begeisterung auf Vladimir Jurowskis Anleitungen ein und scheinen seine klare Ansprache und die präzise Probenarbeit richtiggehend zu geniessen.
Das finale Durchspiel von Marsch, Kleiner Polka und dem Walzer Nr. 2 hinterlässt einen grossen Haufen euphorischer Amateurmusiker, die in der gut einstündigen Probe unter Vladimir Jurowski nicht nur einen gemeinsamen, sondern vor allem auch einen musikalisch wie zwischenmenschlich unvergesslichen Weg zurückgelegt haben.
Redaktioneller Hinweis
Die Autorin aus Aarau spielte als Fagottistin mit.