Besuch aus der Vergangenheit
Wie gehen wir mit früheren Zeiten um? Die neueste Ausgabe des Festivals Alte Musik Zürich vom 22. bis 31. März regte zu so mancher Reflexion an.
Weshalb soll man Musik historischer Epochen hören? Die Musik zumeist toter weisser Männer, wie sich unlängst eine Bekannte echauffierte. Das Problem fordert die gesamte Klassikbranche heraus, akzentuiert sich für einen Veranstalter wie das Forum Alte Musik Zürich aber noch. Schliesslich stammen die Programmschwerpunkte der von ihm zweimal pro Jahr organisierten Festivals doch oft gar aus längst vergangenen Zeiten.
Wie das diesjährige Frühlingsfestival unter dem Motto «Metamorphosen» aber zeigt, spriessen die Lösungsansätze dort am üppigsten, wo sie am dringendsten benötigt werden. Bewusst oder unbewusst, das über zwei Wochenenden verteilte Programm bot eine Reihe von Antworten auf die Frage, weshalb oder wie man sich mit Werken auseinandersetzen soll, die einem kulturell und gesellschaftlich weit entfernten Umfeld entstammen.
Frisches Präludium und einsamer Höhepunkt
Das begann mit den kleinen Apérokonzerten, in denen Linda Alijaj und Hitomi Inoue, beides Studentinnen der Zürcher Hochschule der Künste, Benjamin Brittens Six Metamorphoses after Ovid für Oboe solo vortrugen. Man könnte das nun den musealen Zugang zur Vergangenheit nennen und läge sicher nicht ganz falsch. Mit der Wahl dieses Stücks und den vom Schauspielstudenten Morris Weckherlin noch zusätzlich vorgetra- genen Ausschnitten aus Ovids Dichtung wurde deutlich und demonstrativ auf die lange Tradition europäischer Kultur verwiesen. Dass es sich bei Britten aber gerade nicht um Alte Musik handelt, verleiht der Sache eine gewisse Frische und zeugt von der Offenheit, mit der das Forum seine Programme gestaltet.
Selbstverständlich konnte man an den beiden Wochenenden auch den unter Veranstaltern wohl gängigsten Umgang mit alten Werken beobachten: Die Frage nach ihrer Aktualität wird gar nicht erst gestellt, sondern man vertraut schlicht auf die Kraft der Musik und versucht, sie in einer guten Interpretation möglichst vorteilhaft zu präsentieren. Am Metamorphosen-Festival etwa in einem Konzert, das Josquin Desprez gewidmet war, dem für viele bedeutendsten Renaissance-Komponisten. Das Vokalensemble Alamire demonstrierte dabei in der Kirche St. Peter eindrücklich, wofür englische Kleinensembles zu Recht berühmt sind. Ungemein agil wurden das Stimmengeflecht umgesetzt, einzelne Stimmen hervorgehoben und so der Klangfluss strukturiert. Einzelne Phrasen bekamen da und dort etwas mehr Raum, ohne dabei das delikate Gefüge zu stören. Selbst die frühe und noch verhältnismässig karge Missa d’ung aultre amer blühte so unter der Leitung des Dirigenten und Musikwissenschaftlers David Skinner sinnlich auf. Fragt sich eigentlich nur, weshalb ausge- rechnet dieses Konzert zu den am schlechtesten besuchten des an sich gut frequentierten Festivals zählte – denn musikalisch war es ein Höhepunkt. Eventuell kann es als Hinweis darauf gedeutet werden, dass es heutzutage nicht mehr reicht, einfach sogenannte Meisterwerke der Musikgeschichte zu präsentieren, um Publikum anzulocken. Oder es war einfach Zufall.
Modern gefärbter Blick zurück und eine Ausgrabung
Grossen Publikumszulauf erzielten hingegen drei Konzerte, in denen versucht wurde, Verlorenes oder auch nur vergessene Traditionen zu neuem Leben zu erwecken. So präsentierte die Deutsche Hofmusik eine Rekonstruktion von Johann Sebastian Bachs verlorener Köthener Trauermusik und das Ensemble Melpomen wagte sich unter Conrad Steinmanns Leitung gar an das Wagnis, die Musik der griechischen Antike zu imaginieren. Und, Zufall oder nicht, gerade in solchen Momenten der tastend spekulativen Annäherung erwies sich die Auseinandersetzung mit dem Früher als ungemein produktiv. Nämlich, indem man dazu gezwungen wurde, über unseren Umgang mit der Vergangenheit nachzudenken.
Am stärksten wurde einem das in der Helferei beim Konzert von Arianna Savalls Gruppe Hirundo Maris bewusst. Savall eröffnete ihre Europareise durch 200 Jahre Minnesang mit einer Einladung ins Mittelalter, und bereits da fragte man sich, ob es nicht doch eher umgekehrt sei. Besucht nicht das Mittelalter uns? Und zwar als guter, sich den Gepflogenheiten des Gastgebers anpassender Gast? Ohne den Dreck und die verstörenden Gewohnheiten mitzubringen? Denn Hirundo Maris bot ja kein authentisches Mittelalter, sondern einen modern gefärbten Blick zurück. Das wäre grundsätzlich nicht problematisch, bleibt einem doch gar nichts anderes übrig, als sich eine bestimmte Sichtweise auf die nur in Text und Melodie überlieferten Weisen so gewissenhaft als möglich zurechtzulegen. Und musikalisch war das auch exzellent und historisch fundiert gelöst. Doch das ganze Brimborium inklusive «Mittelalterkleidung» war befremdlich. Mehr Distanz zum eigenen Tun hätte dem Ensemble nicht geschadet. Trotzdem oder vielleicht gerade deswegen verliess man das Konzert musikalisch beschwingt und intellektuell angeregt. Und was möchte man denn mehr? Viele Veranstaltungen mit neuerer Musik vermögen solches nicht zu leisten.
Eine Einsicht ganz anderer Art vermittelte das Abschlusskonzert mit einer Vesper Carlo Donato Cossonis, eines norditalienischen Komponisten des 17. Jahrhunderts, dessen Musik grösstenteils handschriftlich in der Bibliothek des Klosters Einsiedeln liegt. Es zählt zwar mittlerweile zu den beliebtesten Marketingtricks der Industrie, unbekannte Kleinmeister wiederzuentdecken. Hier konstatierte man allerdings einmal mehr, dass es bei vielen dieser Entdeckungen kein grosser Verlust wäre, wenn sie nie gemacht würden. Doch es zählt zu den vielen Stärken des Festivals, dass einem auch solche Konzerte als gewinnbringend in Erinnerung bleiben.