Wundertüte des Unberechenbaren
Jedes Jahr im November findet in Huddersfield das Contemporary Music Festival statt. Schweizer Komponisten, Interpreten und Ensembles spielen immer wieder eine prominente Rolle.
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Es ist der Eröffnungstag des Huddersfield Contemporary Music Festival (HCMF). Zum Start gab es eine UK-Premiere mit der britischen Komponistin Rebecca Saunders. Jetzt, etwas später, hat man sich gerade noch knapp einen Sitz ergattern können in der Textilmühle Bates. Auch hier findet eine UK-Premiere statt. Zur Aufführung gelangt das Stück To Be Continued vom diesjährigen Composer in Residence, dem Amerikaschweizer Christian Marclay, durch das Lausanner Quintett ensemBle baBel (sic). Die Partitur ist an der Kasse zu kaufen, und sie hat regen Absatz. Partituren kommen selten so unterhaltsam daher. To Be Continued besteht aus 48 Seiten, jede enthält Bilder, die Marclay aus Comics stibitzt hat und als Collagen in einen neuen Kontext stellt. Die Musikerinnen und Musiker sollen jede Seite genau 30 Sekunden lang in Klang umsetzen. Die baBels haben To Be Continued schon mehrmals aufgeführt. Einige Passagen sind denn vorher abgesprochen, andere improvisiert. Der Auftritt ist ein Triumph für alle Beteiligten. Das ensemBle baBel – Gitarre, Sax, Blockflöte/Bassklarinette, Schlagzeug, Kontrabass – jagt sich gegenseitig mit spritzigen Einfällen. Trotz der Sprünge im 30-Sekunden-Takt bilden die Teile ein stimmiges Ganzes, das nie ins Gimmickhafte abrutscht. Das Publikum weiss es begeistert zu verdanken.
Gentleman’s Agreement mit Pro Helvetia
Huddersfield ist eine typische nordenglische Kleinstadt. Vom Reichtum, den die industrielle Revolution einst brachte, sind nur noch ein paar Renommiergebäude geblieben. Aber mit dem Ausbau der Universität ist neues Leben eingekehrt. Durch die Unterstützung des HCMF – inzwischen eines der wichtigsten Festivals Neuer Musik in Europa – will die Stadt weiter an Profil gewinnen. Heuer fand es zum 41. Mal statt. Während zehn Tagen waren siebzig Konzerte, dazu Podiumsgespräche, Ausstellungen und Workshops zu geniessen, darunter ein Dutzend Veranstaltungen von und mit Christian Marclay. Es ist das vierte Mal in Folge, dass die Schweiz im Programm von Huddersfield eine Sonderstellung einnimmt. Die Zusammenarbeit ist von der Pro Helvetia mit Geduld und Fingerspitzengefühl aufgebaut worden. Vor sieben Jahren machte sich deren Musikchef Andri Hardmeier erstmals auf den Weg nach Yorkshire. Im langjährigen Festivaldirektor Graham McKenzie traf er auf einen Mann mit klaren Vorstellungen, wie sein Programm aussehen sollte. Man kam zu einem Gentlemen’s Agreement, wie es McKenzie oft mit nationalen Organisationen abschliesst. Drei Jahre lang sollte ein besonderes Augenmerk auf Schweizer Komponisten, Ensembles und Interpreten gerichtet werden. Wichtig war an dem Arrangement, dass man sich nicht einfach ins Programm «einkaufte». Die Auswahl lag immer bei McKenzie. Pro Helvetia half höchstens mit, indem man den Direktor gelegentlich zum subtil gesteuerten Naschen in die Schweiz lockte. Wenn er sich dann zum Beispiel für ein Ensemble oder eine Komposition entschied, konnte er auf einen Unterstützungsbeitrag zählen. Durch diese Teilung der Verantwortung war gewährleistet, dass sich das Festival für die ins Programm aufgenommenen Künstler und Werke auch wirklich ins Zeug legte und keine geschenkten Gäule laufen liess.
Man versteht sich
Im ersten Jahr dieser engeren Zusammenarbeit fungierte Jürg Frey als Composer in Residence. 2016 stand der Komponist und Cellist Alfred Zimmerlin im Mittelpunkt des Geschehens. Den Fokus der Förderung bildet dabei das Werk. Durch die Präsenz in Huddersfield werde eine Brücke geschlagen zum englischsprachigen Kulturkreis, erklärt Hardmeier. Dessen Ausrichtung unterscheide sich stark von den Strömungen etwa im deutschen Sprachbereich mit dem Zentrum Donaueschingen. «So stellen wir nun fest, dass immer mehr britische Ensembles Werke von Schweizer Komponisten aufführen wollen.» Graham McKenzie wiederum hat entdeckt, dass sein Ohr besonders gut auf die Strömungen in der Neuen Schweizer Musik eingestellt ist. Von ihm kam der Vorschlag, das Agreement zu verlängern und Christian Marclay nach Huddersfield zu holen. Bereits rede man über weitere Projekte. «Als ich vor sieben Jahren zum ersten Mal hierher kam, wollte ich einfach einmal das Festival erleben», sagt Hardmeier. «Dabei merkten wir bald, dass wir irgendwie zusammenpassten. Man verstand sich. Interessierte sich fürs Gleiche.» Auf diesem Nährboden erst habe eine langfristige Beziehung gedeihen können. «Es hätte auch sein können, dass nach drei Jahren alles vorbei gewesen wäre. Dass Graham gefunden hätte, jetzt sei erst mal genug Schweiz. Ich glaube, seine Lust, sich weiterhin so intensiv mit Schweizer Musik zu befassen, ist auch darauf zurückzuführen, dass wir ihm die Freiheit liessen, zu programmieren, was ihn interessierte. Denn Beziehungen dieser Art können nicht vorausgeplant oder gesteuert werden.»
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