Zeitloses zur Unzeit
Die diesjährige Ausgabe des Musikfestivals Bern beleuchtete Fragen von Zeit und Zeitlichkeit. Wir nahmen uns die Zeit und besuchten einen Festivaltag.
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Zur Unzeit krähte der Hahn am Berner Zytglogge nicht nur an diesem Tag, sondern mehrfach während des Festivals vom 5. bis 9. September. Schuld daran war Markus Marti, seit 40 Jahren Zeitglockenrichter, der gemeinsam mit Christoph Hess alias Strotter Inst. das Wahrzeichen von Bern zu einer eindrücklichen Klangkulisse umfunktionierte. Anstatt wie üblicherweise kurz vor Ablauf der vollen Stunde krähte der Hahn mitten in die angebrochenen Stunden hinein. Die draussen gebliebenen Touristen mochte es freuen, die Besucher der Installation Verrückte Zeitglocken wohl noch mehr. Im ersten Stock des Turms hantierte Marti nämlich virtuos am Monumentaluhrwerk, verkürzte dabei die Zeit und erzeugte mit der imposanten Maschinerie ein breites Klangspektrum – grobmechanisch im Umgang, subtil in der Wirkung –, das perfekt auf die extra für den Anlass konzipierte Plattenspielerkomposition Schonzeit von Strotter Inst. abgestimmt war.
Während des Musikfestivals Bern verwandelt sich die Bundesstadt stets zu einem einzigen grossen Konzertraum. Wahrzeichen, Aussenquartiere sogar der Bahnhofsvorplatz: alles wird bespielt. In diesem Jahr oft auch zu ungewöhnlichen Zeiten. Unter dem Festivalmotto «unzeitig» traute die Festivalleitung den Besuchern auch schon mal zu, ein Konzert um 23:59 Uhr zu besuchen, kurz vor der Geisterstunde. In einer Privatwohnung in der Münstergasse. Nach einem intensiven Festivaltag definitiv nicht die beste Zeit, leisen, subtil sich wandelnden Klängen zu lauschen, wie sie der Bieler Klangkünstler Jonas Kocher in seinem Konzept «Home (Münstergasse 37)» vorsieht. An der Qualität der Aufführung durch das Ensemble Aabat lag es nicht, dass einigen Besuchern bald einmal der Geduldsfaden riss und sie polternd die Altstadtwohnung verliessen.
Eruptive Klangblöcke
An Intensität mangelte es dem Konzert drei Stunden zuvor in der Grossen Halle der Reitschule nicht. Zwei gewichtige Werke von Bernd Alois Zimmermann standen auf dem Programm: das Trompetenkonzert Nobody knows de trouble I see (1954) und die ekklesiastische Aktion Ich wandte mich um und sah an alles Unrecht, das geschah unter der Sonne (1970). Nur wenige Komponisten setzten sich im 20. Jahrhundert so intensiv mit Fragen der Zeit auseinander wie Zimmermann. Er entwarf das Konzept der «Kugelgestalt der Zeit», bei dem sich verschiedenste Zeitschichten überlagern können, und verwob in seinen Werken unterschiedliche Musikstile zu einem erstaunlich homogenen Ganzen. Den 1970 verstorbenen Komponisten, der in diesem Jahr 100-jährig geworden wäre, zum Composer in Residence des Festivals zu ernennen, drängte sich geradezu auf.
Das gross besetzte Berner Symphonieorchester unter der Leitung von Mario Venzago traf die Stimmung des Trompetenkonzerts präzise. Klangwucht und Drive brachte das Orchester gekonnt in Einklang und liess die Musik prächtig ins obligate Jazzfurioso kippen. Unablässig wusste der junge Trompetenvirtuose Simon Höfele dabei zu brillieren. In eine gänzlich andere Welt entführte danach der Schweizer Jugendchor (Leitung: Nicolas Fink). Quasi als versöhnliches Intermezzo zwischen den beiden eruptiven, anklagenden Blöcken von Zimmermann verflochten die jungen Sängerinnen und Sänger Thomas Tallis‘ vierzigstimmige Motette Spem in alium nunquam habui (um 1570) zu einem berührenden und dichten Klangkontinuum, das trotz dem kargem Nachhall in der Reithalle gut zur Geltung kam. Völlig ratlos indes liess viele Zuhörer die ekklesiastische Aktion für zwei Sprecher, Bariton-Solo und Orchester zurück. Robin Adams (Bariton), Julia Kiesler (Sprecherin) und Franz Mazura (Sprecher) legten sich ins Zeug, und die Interpretation war stark. Dieses letzte Aufbäumen Zimmermanns vor seinem Freitod, das durch schränzende Orchesterpassagen oftmals die Schmerzgrenze überschreitet, hinterliess dennoch viele Fragezeichen, und in einem schwachen Moment ertappte man sich beim Wunsch, das Musikfestival Bern hätte doch anstatt Zimmermann den zeitlosen Thomas Tallis zum Composer in Residence ernannt.
Spitzfindig und geistreich
Uneingeschränkte Glücksgefühle hinterliessen dagegen Jürg Kienberger als Interluder in Residence und Christian Grüny als Festival-Philosoph. Mit spitzfindigen kleinen Störmanövern tauchte Kienberger immer wieder in Konzerten auf, etwa spätabends in der Französischen Kirche, um die Aufführung zweier Trauerkantaten von Bach und Telemann stilvoll zu konterkarieren. Die Interpretation der Kantaten selbst erreichte durch das Vokalensemble BernVocal, begleitet von einem hochkarätig zusammengestellten Solistenensemble, himmlische Sphären.
Grüny wiederum interludierte geistreich unter dem Motto «Resonanz und Wiederholung» im Kunstmuseum, das mit den gegenwärtig ausgestellten Hodler-Bildern eine angenehme Atmosphäre für die Aufführung zweier kontrastreicher Cellostücke von Zimmermann und Michael Pelzel bot.
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- In der Zeitkugel, Konzert in der grossen Halle der Berner Reitschule
- Simon Hofele, Trompete; Robin Adams, Bariton; Franz Mazura, Sprecher; Julia Kiesler, Sprecherin; Berner Symphonieorchester, Leitung Mario Venzago; Schweizer Jugendchor, Leitung Nicolas Fink