Lauthals zu Tisch
Vom Essen und Trinken und Singen im Allgemeinen und Besonderen
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Das Kochen mag noch nicht zu den Artes liberales gehören, unbestritten ist jedoch, dass es sich in den letzten Jahrzehnten in den Rang einer neunten, zehnten oder wievielten Kunst auch immer gehievt hat. Mehr noch: Es übertrifft, was Ausstrahlung und geschmacksästhetische Diskussion betrifft, fast alle guten alten Künste bei Weitem. Nur mit den Preisen des Kunstmarkts kann es noch nicht ganz mithalten, aber man ist gewillt, für einen Abend bei einem Spitzenkoch gleichviel hinzulegen wie für einen mit Anna Netrebko. Da zeigt sich, wie sehr sich die unentwegte Vermittlungsarbeit via Kochsendungen und -bücher gelohnt hat. Die Laien sind hier längst einbezogen worden. Leider gibt es nun mal keinen Jamie der Spektralmusik.
Auf der anderen Seite ist Sancta Innovatio, die Schutzgöttin der Neuen Musik, auch bei der Avantgarde-Küche angelangt. Da wird klassische Viergängigkeit überwunden, süss-pfeffriger Kontrapunkt betrieben, Molekulartonalität erforscht, und selbst die extended techniques tauchen in der Verwendung von Moos und Asche auf – bloss bekömmlich sollte es sein. Von da her ist es erstaunlich, wie selten noch der Cross-over gewagt, also Kurtág mit Nouvelle Cuisine, Lachenmann mit Stefan Wiesner kombiniert werden. Hier wäre der Diskurs bitter nötig.
Essen und Musik – kein einfaches Menü
Ist der wahrhaft multisensuelle Cross-over noch weitgehend Zukunftskulinarik, so hat sich das gemeinsame Essen doch als Teil der Performance-Kunst etabliert. In zahlreichen Festivals ist’s ein fester Bestandteil. Nicht zu Unrecht: Das Essen macht, dass die Atmosphäre denn doch weitaus gelöster ist als sonst im Konzert.
Darauf baut nun auch die hier zu besprechende Tavolata mit Musik auf, durchaus lustig und lustvoll, wie schon der Titel zeigt: Lauthals. Das frisch gegründete Vokalsextett Maulauf lud zu seiner ersten Produktion ein. Die Schwierigkeit war in diesem Fall weniger, dass man nicht mit vollem Mund sprechen bzw. singen soll. Den Akteuren ist derlei während einer Aufführung ohnehin nur in Ausnahmefällen zu empfehlen. Und sie taten’s denn hier auch nach der Performance. Schwieriger ist, dass das Publikum isst und trinkt, auch wenn die Darbietung läuft. Der Klang wird zur Musique d’ameublement. Wie soll man sich da verhalten?
Die Gratwanderung, jedem Cross-over eigen, besteht darin, dass sich zwei Ebenen, auf gleicher Stufe begegnen müssen. Das gelang – bei der Vorstellung im Kosmos Zürich vom 16. Mai – nicht restlos. Spät erst, in einer Pause nach einer halben Stunde, wurde serviert. Da verspürte man schon ein Hüngerchen. Und Essen und Musik verharrten ziemlich getrennt voneinander. Zum Verzehr gab’s eher einen delikaten, aber etwas käselastigen Apéro riche als ein veritables Menü. Die strukturellen Beziehungen zwischen dem normalen Essen und dem «Food of love», eben der Musik, blieben ephemer.
Ein opulentes Stimmengericht
Umso überzeugender das vokale Menü für sich, denn dieses klangservierende Ensemble ist von höchster Güte. Die Stimmen von Irina Ungureanu, Isa Wiss, Dorothea Schürch, Urs Weibel, Mischa Käser und Urban Mäder sind nicht nur virtuos, sondern auch sehr unterschiedlich. Sie verbinden sich im Kollektiv und behalten doch alle ihren Charakter. Jeder und jede von ihnen bekommt sein Solo, eines köstlicher als das andere. Die eine hält eine verschupfte Rede, der andere stemmt schimpfend seinen Stuhl durch die Menge. Kaum jedoch bleibt Zeit für einen Zwischenapplaus, da geht’s auch schon gemeinsam weiter. Sie skandieren einzelne Worte in einem Höllentempo, variieren sie in der Repetition allmählich, lassen so neue Wort- und Bedeutungsfelder entstehen, die sich ausbreiten und wieder ausdünnen. Laut und Leise. Manchmal flüsternd, manchmal schreiend. Singend sprechend gurgelnd etc., poetisch, aber auch theatral. Man weiss nie, ob nicht im nächsten Moment jemand einen Streit anzettelt oder zu winseln beginnt. Unappetitliches wäre wohl auch denkbar, wird aber dankenswerterweise aus gehaltsästhetischen Erwägungen beiseitegelassen. Aber ein bisschen ungemütlich ist diese Tafelmusik in aller Gemütlichkeit denn doch.
Die zentrale, wenn auch nicht ausschliessliche Textgrundlage bilden die an sich schon lautpoetischen Texte Ernst Jandls, dessen wienerischer Blues oft über die Spartengrenzen hinausschwingt. Neue Musik? Vielleicht. Dadaismus? Auch ein wenig. Stimmperformance? Gewiss, freilich entfällt in dieser Gruppe wohltuenderweise jene Selbstverliebtheit, die gelegentlich bei Sprachmusikvirtuosen aufscheint. Spürbar wird hingegen die ungemeine Subtilität, die aus nächster Nähe erfahrbar wird, aber auch die enorme stimmliche Wucht. Und mittendrin sitzt das Publikum (etwa vierzig Personen insgesamt), isst und trinkt, darf auch mal schwatzen, staunt und wird grossartig unterhalten. Wunderbar schliesslich auch die Zugabe: ein langes strohbassiertes Grunzen, das allmählich in ein helles Summen überging.