Ein grosser Wurf
Die Wittener Tage für neue Kammermusik vom 27. bis 29. April bestechen durch interpretatorische wie kompositorische Qualität.
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Professionelles Musizieren ist Hochleistungssport und Muskelspiel. In ihrer Klang- und Videoinstallation Quartet. Bodies in Performance zeigt die 1971 in Zürich geborene Katharina Rosenberger die entblössten Rücken von vier Musikern. Schulterblätter bewegen sich, Sehnen treten hervor, auch kräftige Muskeln, trainiert durch jahrzehntelanges Üben. Rosenberger komponierte für ihre Installation kein geschlossenes Quartett, sondern locker gefügte Solostücke für Klavier, Schlagzeug, Akkordeon und Kontrabass. Sie ist multimedial erfahren genug, um zu wissen, dass sich Sicht- und Hörbares sinnvoll befruchten, nicht Klingendes oder Visuelles dominieren sollte. Sie tat auch gut daran, die Videos nicht direttissima mit der Musik zu synchronisieren. Das erhöht die Aufmerksamkeit des Betrachters. Raum bleibt zum Weiterdenken, zum Sinnieren, zum Räsonieren.
Der Interpreten-Fokus Rosenbergers passt gut zu den Wittener Tagen für neue Kammermusik. Immer wieder besticht das jährlich ausgetragene Festival durch herausragende Musikerleistungen. Zu den erfahrenen Neue-Musik-Spezialisten traten diesmal verstärkt das furiose Klavierduo Grau/Schumacher und die jungen Musikerinnen des Trio Catch. Im Wechsel mit den Pianisten intoniert das Trio eine obsessive compulsive music des jungen, in Zürich lebenden Brasilianers Ricardo Eizirik. Er lässt das Trio kurze, rhythmisch prägnante Motive ostinat wiederholen. Unfassbar genau bewältigen Boglárca Pecze (Klarinette), Eva Boesch (Cello) und Sun-Young Nam (Klavier) die heikle Rhythmik eines inspirierten Stückes. Nicht weniger überzeugend die Interpretation von Rosenbergers Trio surge. Stets transparent ist hier das ausgedünnte Klangbild, spannungsvoll gesetzt sind die Generalpausen eines wiederum sehr beeindruckenden Werks, dem man nach der Wittener Uraufführung viele weitere Aufführungen wünscht.
Essenz und Dichte
Das bündige Fazit eines Neue-Musik-Festivals mit mehr als 20 Uraufführungen fällt in der Regel schwer. In Witten war es diesmal kein Auf und Ab, kein – zuweilen mühsamer – Wechsel von experimentellem Misslingen, von Routiniertem oder versöhnlich Beeindruckenderem. Dank herausragender Interpreten, aber auch dank fast durchwegs aussergewöhnlich inspirierter Tonsetzern geriet dem klug programmierenden Festivalleiter Harry Vogt ein grosser Wurf. Unglaublich die Intensität des 35-minütigen Epigram I–III, das der Franzose Franck Bedrossian für die Sopranistin Donatienne Michel-Dansac und das Klangforum Wien geschrieben hat. Michel-Dansac singt Texte der amerikanischen Autorin Emily Dickinson. Ebenso flexibel wie farbenreich spürt sie den Textinhalten nach, während das Ensemble mal als «Nachhallraum», mal als rabiater Kommentator dient, mal als ein Partner der Sopranistin, der sich klanglich anschmiegt und zuweilen mit dem Gesang verschmilzt. Bedrossian zieht in seiner computergestützten Komposition alle Register. Virtuos versteht er zu instrumentieren, dazu kommt ein ausgesprochener Sinn für Dramaturgie. An keiner Stelle des Werks lässt er die Zügel schleifen. Alles ist Essenz, dicht und konzentriert.
Weitere Highlights kommen von Mark André, von Johannes Maria Staud und Georg Friedrich Haas. Seinem Personalstil entsprechend präsentiert er wieder Klanggemische, die nur ihm zu gelingen scheinen. Heftige Klavier-Cluster mischen sich im Trio Blumenwiese I–III vorzüglich mit den Multifonen des Saxofonisten Marcus Weiss und den perkussiven Akzenten des Schlagwerkers Christian Dierstein. Mark André und der Österreicher Johannes Maria Staud betreiben ähnlich spitzfindige Klangarbeit. In Mark Andrés Uraufführung …selig sind… Zwischenräume des Entschwindens gibt es eine seltene Begegnung von Liveelektronik mit einer Klarinette. Mit seinem Instrument durchstreift Jörg Widmann die Räume des Märkischen Museums in Witten. Erst das Ende erklingt – rituell, durchaus auch religiös aufgeladen – inmitten des Publikums. Auch dank dem SWR-Experimentalstudio fasziniert insbesondere die enge Verzahnung instrumentaler Liegetöne mit den Digitalsphären aus den Lautsprechern. Im Lichte II nennt Staud sein Duo für zwei Klaviere. Es ist eine Art Selbsterkundung, da er zurückblickt auf ein etwa zehn Jahre altes Orchesterwerk. Was er im Lauf der Zeit «dazugewonnen» oder «verloren» hat – dem wollte er in diesem expressiven Werk nachspüren. Gewonnen hat letztlich auch der Witten-Besucher, der belohnt wurde durch einen aussergewöhnlichen Jahrgang, der geschmackliche Nuancen in allen Formen bot.