Welttheater im Café der Carischs

Ein Bündner und ein Zar in Paris: In der Scheune der Familie Carisch im bündnerischen Riom erzählt das Origen Festival von einer stillen, ungewöhnlichen Begegnung.

Wintertheater «Clavadeira». Foto: Bowie Verschuuren,Foto: Benjamin Hofer

Heimkehr: das war schon immer eines der wichtigsten Themen beim Origen Festival Cultural – manchmal mit aller Deutlichkeit, manchmal eher versteckt. Giovanni Netzer, Theologe, Kunst- und Theaterwissenschaftler, kehrte einst nach den Studien ins Surses, in sein Heimatort Savognin zurück und zog dort 2005 ein neues, ziemlich einzigartiges Festival auf – mit Hilfe einheimischer Kräfte und an besonderen Spielstätten der Region. «Origen» heisst es denn auch, «Ursprung». Man pflegte von Beginn weg die Dreisprachigkeit des Tals und bespielte die wunderbaren alten Kirchen der Gegend, die Burg von Riom, die Staumauer von Marmorera, ja auch den Julierpass, wich zuweilen ins Engadin oder ins Münstertal aus, wenn es vom Thema her angebracht schien, oder auch ins Unterland. In Landquart finden jeweils die Weihnachstkonzerte statt, diesen Advent mit Jan Dismas Zelenka, dem so ausserordentlichen böhmischen Barockkomponisten, der am Dresdner Hof tätig war. Die Missa Purificationis Beatae Virginis Mariae und das zweichörige Te Deum erklangen mit einer ad hoc zusammengestellten Instrumentalgruppe und dem Vokalensemble des Festivals, die unter Clau Scherrer eine lebhafte, abwechslungsreiche Aufführung auf hohem Niveau boten. Auch der Raum, die lange Werkhalle der Rhätischen Bahn, wurde zum Erlebnis, mit einer deutlichen Akustik und mit tausend Kerzen, die während der Aufführung angezündet wurden.

Netzer hatte stets die Räume im Auge. In Landquart wirkt das vor allem stimmungsvoll, aber er nutzte ebenso häufig die spektakulären Seiten der Szenerien und veränderte unseren touristischen Blick darauf, etwa wenn er am Stausee von der Sintflut erzählte. Wie bedrohlich kann ein so stilles Gewässer auf einmal wirken – trotz der prächtigen Gewänder von Martin Leuthold, die zu einem Markenzeichen des Festivals geworden sind. Untergründige Kräfte wurden da spürbar. Auf dem Julierpass ist derzeit übrigens ein roter Turm geplant, ein hölzerner babylonischer Turm, der von 2017 an in allen Jahrenzeiten bespielt und im Herbst 2020 wieder abgebaut werden soll.

Im Zentrum des Festivals standen zunächst geistliche, ja biblische Themen: Samson, der Messias, Noah, später auch Erzählungen um Karl den Grossen oder aus der Lokalhistorie. Das Festival fand sommers statt, aber Origen expandierte zusehends, nicht nur regional, sondern auch zeitlich, spielte im Winter, eindrücklich in der Schneelandschaft des Silvaplaner Sees. Vor einigen Jahren konnte man den Menzinger Schwestern das Haus Sontga Croush mitten in Riom abkaufen, das als Festivalzentrum mitsamt Café fungiert – und schliesslich wurde die dazugehörende alte Scheune zum Theaterraum umrenoviert, der das ganze Jahr hindurch zur Verfügung steht.

Das Anwesen gehörte einst den Carischs. Ihr Vermögen hatte die Emigrantenfamilie im Ausland gemacht – wie so viele Bündner: Manche von ihnen kehrten, reich geworden, heim, andere blieben im Ausland, begleitet von jener «Malancuneia», die Origen im Sommer 2016 als Motto diente. Es ist das Heimweh der Bündner, die einst als Söldner in fremden Diensten standen oder als Zuckerbäcker in alle Welt gingen, nach Russland etwa wie der Grossvater des Komponisten Paul Juon oder nach Paris wie die Carischs. In den Liederprogrammen des Festivals klang diese «Nostalgia» nach.

Und in den Theaterproduktionen. Über die Carischs entstand eine Trilogie, die nun mit «Der Zar in Paris» abgeschlossen wurde. Es ist eine eigentümliche und traurige Geschichte, eine nicht genauer greifbare Legende vom Ende des 19. Jahrhunderts: Im Café von Auguste Carisch erscheint eines Abends ein ungewohnter Gast mit Entourage, der in Paris weilende Zar mit seiner Frau. Das Paar, das keinen männlichen Nachfolger hat, möchte Carischs Sohn nach Petersburg nehmen und vielleicht adoptieren: Er sehe dem Zaren so ähnlich. Carischs Frau verhindert es.

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Musiktheater «Der Zar in Paris»

Regisseur Giovanni Netzer verzichtet dafür auf Bühnenbild und Requisite: Kein Café, kein imperialer Prunk, keine Bebilderung. Das Publikum sitzt in der Clavadeira, der renovierten Scheune, rund ums Geschehen. Auguste Carisch (Manuel Schunter) erzählt die Handlung, zwischendurch wird sie nur angedeutet: In den Bewegungen vor allem der beiden Tänzer (Riikka Läser, Torry Trautmann) und in der Musik (mit den Sängern Sybille Diethelm und Martin Mairinger sowie Alena Sojer am Klavier). Wie so häufig bei Origen gehen Bewegung und Klang ineinander über. Es bedarf keiner weiteren Erklärung. Die Emotionen stecken in den Gesten – und in den Chansons von Reynaldo Hahn: Ihr pastichehafter Charme, ebenso Fin de Siècle wie melancholische Nostalgie an vergangene Zeiten, passt genau in diese Zeitenwende und vertieft die Gefühle. Wie schon in der Kammeroper «Benjamin» von Gion Antoni Derungs, die 2015 selbenorts zu erleben war, gelingt hier ein Welttheater der Intimität. Der Eindruck verstärkt sich, dass Origen damit auch zu sich selber gekommen ist.  

Weitere Aufführungen bis 15. März 2017

www.origen.ch

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