Die Entdeckung der Schönheit

Vom 12. Oktober bis 2. November waren neben bekannteren Werken Louriés Uraufführungen, Schweizer Erstaufführungen und eine Neukomposition der Schweizerin Regina Irman zu hören.

Arthur Lourié 1928. Foto: Jerome Lontres © Arthur Lourié Collection, Paul-Sacher-Stiftung, Basel

Der experimentierfreudige Arthur Lourié (1891–1966) hinterliess ein vielfältiges Œuvre, zwei Opern, Ballettmusik, zwei Sinfonien, Kammermusik, zahlreiche Klavierwerke, vokalinstrumentale Werke, Lieder, darunter vieles, was bisher unbekannt ist. Teile seines Nachlasses, Musik- und Textmanuskripte, Entwürfe und Reinschriften, werden in der Paul-Sacher-Stiftung in Basel aufbewahrt. Die Arthur-Lourié-Gesellschaft widmet sich der Wiederentdeckung dieses faszinierenden Komponisten.

Arthur Lourié starb vor fünfzig Jahren am 12. Oktober 1966 in Princeton, New Jersey. Sein Werk gleiche einer Wunderkiste, erläutert Stefan Hulliger, künstlerischer Leiter des Festivals und Präsident der Arthur-Lourié-Gesellschaft, der sich seit zehn Jahren intensiv damit beschäftigt. Alles, was man heraushole, sei überraschend und wunderbar und dränge einfach danach, gespielt zu werden. Oft seien die Musikerinnen und Musiker selbst verblüfft von der Wirkung der Kompositionen, wenn sie auf der Bühne zum Leben erweckt würden.

Melodik in Verbindung mit Dissonanz, eigenwillige Besetzungen, Verwendung musikalischer Zitate, die Kombination von Vokal- und Instrumentalmusik mit Klängen und Geräuschen oder Sprechstimmen, das Schwingen zwischen experimentellen Ansätzen und musikalischer Tradition bieten ein überraschendes und emotional berührendes Klangerlebnis.

Verloren geglaubte Welt

Beinahe wäre der Komponist vergessen gegangen. Er sass zwischen allen Stühlen, ein Grenzgänger in einer Zeit, als die Grenzen zwischen Ost und West durch den Eisernen Vorhang unüberwindlich waren. 1892 im Russischen Reich geboren, jüdischer Herkunft, wuchs er in Odessa auf und studierte am Petersburger Konservatorium Klavier und Komposition. 1913 trat er zum katholischen Glauben über. Er war ein Freund Anna Achmatowas, Teil einer Kohorte hochbegabter junger Menschen, die im vorrevolutionären Petersburg eine Atmosphäre kompromissloser künstlerischer Suche, Sensibilität und Offenheit schufen und Petersburg zu einem Laboratorium der Moderne machten. Der junge Komponist war von der italienischen Renaissance ebenso fasziniert wie von russischer archaischer Musik und den Ideen des russischen Futurismus. Befreundet mit Chlebnikow, Majakowski, Tatlin und den Brüdern Burljuk übertrug er deren radikalen Umgang mit dem Wort und ihre Lautpoesie auf die Musik. Er strebte nach einer Synthese der Künste und experimentierte mit Mikrointervallen, brachte bei performanceartigen Aufführungen mit präparierten Instrumenten Alltags- und Naturgeräusche zu Gehör und kreierte eine extrem individualisierte grafische Notenschrift.

Die Oktoberrevolution 1917 begrüsste er, wie die meisten radikalen jungen Künstler seiner Generation, und wurde als Leiter der Musikabteilung im Ministerium für Volksbildung eingesetzt. Seine Euphorie verflog schnell, als ihm klar wurde, dass er die Erwartungen an Propaganda und Agitation in der Musik nicht mittragen konnte.

1922 flüchtete er über Berlin nach Paris, nahm im Kreis um Igor Strawinsky Aufgaben als dessen Sekretär wahr und komponierte zwei Sinfonien, das Concerto Spirituale für Chor, Klavier und Orchester sowie zahlreiche Instrumental- und Vokalwerke mit Anklängen an die lateinisch geprägte spirituelle Kultur. 1940 musste er vor der deutschen Besetzung aus Paris fliehen und gelangte in die USA, wo er in New York und an der Westküste lebte und zunehmend vereinsamte. In der damaligen Sowjetunion Persona non grata, von seiner europäischen Vergangenheit getrennt, bewegte ihn Petersburg als kulturelles Phänomen. Er arbeitete lange an seiner Oper Der Mohr Peters des Grossen, in der die Geschichte Petersburgs auflebt. Wie Vladimir Nabokov, der seine Sehnsucht nach Petersburg zum Gegenstand der Weltliteratur erhob, wie Anna Achmatowa, die im Poem ohne Held in das Jahr 1913 zurückkehrte und ein Kunstwerk von Weltgeltung schuf, suchte auch Lourié Zugang zu einer verloren geglaubten Welt.

Bekanntes und hinreissende Solitäre

Drei Konzertabende im Rahmen der 10. Internationalen Lourié-Musiktage boten in Basel die Gelegenheit, das Werk des Petersburgers zu entdecken. Am 12. Oktober traten beim Gedenkkonzert zum 50. Todestag zwei unterschiedliche Pianisten auf, die Bulgarin Borislava Taneva und Moritz Ernst, der diesjährige Festival Artist, der seine Ausbildung in Basel erhalten hat und zu den vielseitigsten Meistern seines Fachs zählt. Anlässlich des Jubiläumsjahrs legte er das gesamte Klavierwerk von Arthur Lourié als Welt-Ersteinspielung auf drei CDs vor.

«Wohin mit dieser Wehmut!» So leitete Stefan Hulliger am 1. November das Concerto da Camera für Solovioline und Streicher ein. Drei Violinen, drei Violen, drei Violoncelli, ein Kontrabass und die Solovioline rufen in sechs Sätzen und immer stärker werdenden Klangbildern Erinnerungen wach. Es gilt als das meistgespielte Stück des Komponisten und wurde eingerahmt von kleineren Kammermusikstücken wie Divertissement (1929), einem Werk für Violinen und Violen in vier Sätzen, das mit einem musikalischen Thema der Oktoberrevolution, Ech, Jablotschko, beginnt, mit byzantinisch inspirierten sakralen Klängen endet und an Alexander Bloks Revolutionspoem Die Zwölf denken lässt.

Schwelgerisch und bildgewaltig klang die Pastorale de la Volga, 1916 auf der Datscha des symbolistischen Dichters Fjodor Sologub in Kostroma entstanden, dem Heimatort Djagilews und der Romanow-Dynastie. Opulente Klangbilder in einer «unfassbaren Besetzung» mit Oboe, Fagott, zwei Violen und Violoncello. Dazwischen spielte Moritz Ernst Klavierintermezzi, darunter Royal v detskoj (Flügel im Kinderzimmer), acht Szenen einer russischen Kindheit, die Lourié im Revolutionsjahr 1917 seiner Tochter Anna gewidmet hatte, als wollte er das Überzeitliche des Heranwachsens beschwören. Märchenhafte Bilder aus der Kinderwelt im Spannungsfeld von Avantgarde und Tradition, eine Reihe hinreissender und funkelnder kleiner Solitäre, von Moritz Ernst facettenreich umgesetzt.

Schwerpunkt Achmatowa

Auch der dritte Konzertabend am 2. November in der Basler Gare du Nord begeisterte mit Entdeckungen. Er stand unter dem Titel «Die Geburt der Schönheit». Zwölf Sängerinnen, sechs Soprane und sechs Mezzosoprane interpretierten Werke, die von der Beziehung des Komponisten zur russischen Dichterin Anna Achmatowa und ihrer Gedankenwelt inspiriert waren. Höhepunkte waren frühe Vertonungen der Lyrik Achmatowas, wie das Klagelied der Bettlerinnen für zwei Stimmen mit Begleitung von Englischhorn, und Golos Muzy (Stimme der Muse) für eine Sprechstimme und Frauenchor, sowie das Madrigal Canzone de Dante von 1921, das in Basel zur Welt-Uraufführung kam. Mit zwölf Frauenstimmen und Live-Elektronik ist das neueste Werk Masken (2016) der Schweizer Komponistin Regina Irman (*1957) besetzt, das eigens für diesen Abend im Auftrag des Fachausschusses Musik BS/BL geschrieben wurde, ein spannungsreicher Bezug zur Petersburger Avantgarde und zur Gegenwart. Aus der Polyfonie lösen sich Alltagsgeräusche, Wispern, Flüstern, heimliches Sprechen heraus und lassen Spuren des Totalitarismus eindringen, dem Anna Achmatowa in ihrem Leben in der Sowjetunion ausgesetzt war.

Louriés russisch gebrochene Faszination für die italienische Renaissance wurde im titelgebenden Stück La Naissance de la beauté deutlich. Sechs Soprane, Klarinette, Kontrabass, Cembalo und Becken gelangten zum Einsatz, um Botticellis Bild Die Geburt der Venus in Klänge zu fassen. Die Basler Videokünstlerin Bettina Grossenbacher hatte eigens ein Video zu dieser Aufführung hergestellt.

Zu danken ist der Arthur-Lourié Gesellschaft nicht nur für das Engagement, diesen verborgenen Komponisten zur Aufführung zu bringen, sondern auch für die kenntnisreichen Werkeinführungen. Die in alle Winde verstreute Petersburger Kultur wird nach dem Ende des Kalten Krieges auch in Russland wiederentdeckt. Sie hat ihre Protagonisten mit Energie aufgeladen, die heute noch so stark wirkt, wie vor hundert Jahren. Arthur Lourié ist ein aufregender und anregender Komponist, auf dessen weitere Entdeckung wir uns freuen dürfen.

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