Plurale Positionen
Werke von Michael Wertmüller und Martin Jaggi an den Donaueschinger Musiktagen 2016
Wieder einmal: verstörende Momente. Da betritt der englische Philosoph Roger Scruton die Donaueschinger Bühne. Scruton war einst Berater von Margaret Thatcher und schrieb ein Buch über die Musik des 20. Jahrhunderts. Nun referiert er auf Englisch über zeitgenössische Musik beziehungsweise über das, was er für Neue Musik hält: über Werke Arnold Schönbergs also, über die von Pierre Boulez oder Karlheinz Stockhausen. Scrutons Schlüsse: Die Neue Musik hat sich in Systeme verrannt, habe das Ohr ebenso wenig berücksichtigt wie so etwas Nebulöses wie «physiologische Perzeptionsbedingungen». Ergo: Zeitgenössische Musik sei nur mehr eine Sache für jene Spezies, die sich zum Beispiel alljährlich in Donaueschingen trifft. Die Angesprochenen applaudierten nach dem Vortrag brav, verliessen schnell den Raum im Wissen darüber, dass es sich kaum lohne, auf den Referenten einzugehen. Allein die Auflistung Scrutons inhaltlicher Fehler würde den Rahmen sprengen. Nein: Theodor W. Adorno favorisierte keine schönbergsche Zwölftontechnik. Nein: Das Ohr ist keine überhistorische Konstante. Nein: Schon Beethoven war kein populäres Massenphänomen, das schöne Melodien schrieb, die jeder verstanden hat. Und nochmals nein: Neue-Musik-Festivals sind gut besucht, sei es in Berlin, in Stuttgart, auch in Oslo, Warschau oder eben Donaueschingen, wo sich im Gegensatz zu den 50er- oder 60er-Jahren nicht nur 50 Komponisten und Theoretiker trafen, sondern – laut Pressemeldung des Veranstalters – 10 000 Menschen, die sich öffnen und interessieren für das, womit sich heutige Komponisten und Klangkünstler beschäftigen.
Fusionen
Positionen wie die geschilderte, überaus konservative, haben sich erledigt, nicht nur in Donaueschingen. Längst findet Musikgeschichte im Plural statt – und Festivals wie die Donaueschinger Musiktage spiegeln dies wider. Der Schweizer Komponist Michael Wertmüller bringt das fantastische Jazz-Hardcore-Trio Steamboat Switzerland mit Marino Pliakas (Bass), Lucas Niggli (Schlagzeug) und Dominik Blum (Hammond-Orgel) zusammen mit dem Neue-Musik-Ensemble Klangforum Wien. Rhythmisch zupackend, dicht und energetisch geht es zu in diesem uraufgeführten discorde. Beeindruckend die Präsenz beider Formationen, die unter Leitung des Dirigenten Titus Engel unglaublich genau «auf Punkt» spielen. Wertmüller liegt wenig an organischer Geschlossenheit. Immer wieder gibt es Brüche, Zäsuren, Generalpausen, dann auch Parataktisches in Form solistisch-virtuoser Passagen der Hammond-Orgel, des E-Basses oder der Klarinetten und des Xylofons. In Sachen Begegnung von Jazz/Rock und dem, was unter Neuer Musik firmiert, ist der einstige Schlagzeuger Wertmüller erfahren. Problematisch bleibt am Ende aber doch die Klangbalance. Selbst wenn E-Bass und Hammond Orgel leise spielen, selbst wenn Lucas Niggli am Drum-Set zurückhaltend agiert – Fusion hat da seine Grenze, wo Dynamik nicht fusioniert.
«Megaheterofonie»
Letztes Jahr gab es geschlossene Einigkeit: Es war ein schlechter Jahrgang mit zuviel Konzepten und Ideen statt durchdachter Musik. Nun hörte es sich besser an. Zwar gab es auch dieses Jahr wieder Langweiliges, manchmal auch – was besser ist – danebengegangene Experimente. Andererseits bleiben nicht wenige der 17 Uraufführungen in guter Erinnerung. Abgeklärt souverän klingt das neue Konzert für Posaune und Orchester des Österreichers Georg Friedrich Haas im abschliessenden Orchesterkonzert. Haas´ Personalstil entsprechen die getragenen, mikrotonalen Klangflächen, die der Solist Mike Svoboda anreichert mit wunderbar strahlend-durchdringenden Posaunen-Tönen. Gespannt war man auf das neue Werk des 1978 in Basel geborenen Martin Jaggi. Mit seinem beeindruckenden, 2008 entstandenen Moloch für grosses Orchester frönte er noch den eher dunklen Farben. Im nun uraufgeführten Caral für Orchester beginnt es mit vier Querflöten, die – leicht mikrotonal verstimmt – eine vom Aussterben bedrohte Musikkultur vorstellen. Melodien aus den Anden, genauer: aus bolivianischen und peruanischen Hochebenen spielt das Flötenquartett, dem das Orchester antwortet in einer Art – so Jaggi selbst – «Megaheterofonie». Wie schon in Moloch gelingt Jaggi das Kunststück einer formalen Bündigkeit, ja sogar unterschwelligen Logik. Nichts bricht hier auseinander trotz aller klanglichen Widerborstigkeit, auch trotz aller so unterschiedlichen Elemente, die dem Werk ein farbiges, aber auch tiefgründiges Antlitz geben. Wiederholen wolle er sich auf keinen Fall, sagt Jaggi. Aber dieses Caral erklingt hoffentlich bald wieder.
Siehe auch: Bericht von Marco Frei in der NZZ vom 19. Oktober 2016