St. Galler Glockenklang
Alle 118 Kirchenglocken St. Gallens in einem grossen Event: «Zusammenklang» war angesagt, musikalisch, aber wohl auch politisch und konfessionell.
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Am einfachsten und eindrücklichsten wäre es wohl gewesen, alle 118 Glocken dieser langgezogenen Bratwurst (wie ein St. Galler seine Stadt bezeichnete) auf einmal schwingen und klingen zu lassen. Das hätte die Luft erfüllt, wäre aber auf Dauer vielleicht doch etwas zu gleichförmig geraten. Und so beschränkte man sich am 21. August beim grossen Zusammenklang nicht darauf, sondern begann dieses weite Glockenensemble zu gestalten und zu komponieren. Harmonie nämlich vermisste die aus Moskau stammende Musikpädagogin und Komponistin Natalija Marchenkova Frei, als sie vor fünfzehn Jahren erstmals über der Stadt stehend das imposante Geläut hörte. Damals entstand die Idee, diese Glocken wie in einem Orchester zu verbinden – und damit eine harmonische Melodie zu schaffen.
Vor anderthalb Jahren endlich begann sie, bei den Behörden anzuklopfen, ob denn so etwas überhaupt möglich wäre. Zur etwa gleichen Zeit machte sich unabhängig davon auch der aus den USA stammende, beim Sinfonieorchester St. Gallen angestellte Tubist Karl Schimke daran, seine eigenen Glockenvisionen zu realisieren. Per Zufall erfuhren die beiden voneinander, trafen sich und machten sich nun gemeinsam auf den Weg. Dabei galt es zunächst einmal, die politischen und kirchlichen Verantwortlichen zu überzeugen. Überall fanden die beiden offene Türen. Alle Kirchen in einem Zusammenklang – was für ein schöner Gedanke für eine Gemeinschaft! Marchenkova Frei denkt da durchaus auch an eine Ökumene. Weil das Ereignis aber nicht ausschliesslich religiös definiert war, legte man es nicht auf ein Kirchenfest. Nun fungierte es am Sonntagnachmittag als besinnlicher Ausklang des St. Galler Stadtfests.
Das grössere Hindernis war die Technik. Erstens werden die Glocken normalerweise alle automatisch bedient; an keine hängt sich mehr ein Glöckner, um sie per Seil aufzuschwingen. Diese Automatik galt es zunächst auszuhebeln. Bei einigen liess sich der sonst automatisch ausgelöste Fallschlaghammer per Seil betätigen. Bei etwa fünfzig Glocken aber ging das nicht so leicht. Um dort die Glocke zeitlich möglichst präzis anzuschlagen, wurden die zum Teil schweren Klöppel ganz nahe an den Rand der Glocke hochgezogen, so dass ein leichter Zug an einem Seil genügte, um sie anzuschlagen. Über eine eigens entwickelte App via Handy wusste der Glöckner genau, wann er wo zu ziehen hatte.
Alle Glocken einer Stadt im Zusammenklang. Das ist natürlich keine absolute Neuheit. Zum Nationalfeiertag und zur Jahreswende etwa klingen Kirchenglocken gemeinsam. Zur Stadtfeier von Winterthur organisierte man ein grosses Geläut. Und Tallinn feierte das Ende seines Jahrs als Kulturhauptstadt Europa mit einem Gesang der Turmglocken (Tornikellade laul), den der Este Margo Kõlar für 47 Glocken komponierte. Es sind Klangevents, die im Gedächtnis bleiben.
Die Realisierung war aber im Fall St. Gallens der erwähnten Bratwurstlage wegen besonders «tricky». Sechzehn Kilometer Distanz zwischen den äussersten Kirchen sind zu überwinden. Bis der Glockenschlag von St. Gallen Winkeln in der Stadt zu hören ist, vergehen gut zwanzig Sekunden. Und alles sollte von einem «idealen» Punkt auf der Wiese unterhalb des Buebenweihers gut hörbar sein – eine vertrackte Aufgabe. Erst einmal musste berechnet werden, wann die Glockenklänge dort eintreffen, unter Berücksichtigung von Witterungs- und Windverhältnissen auch. Bernd Jansen von der IT-Firma Namics entwickelte zusammen mit der Kirchenturmtechnik Muff nun die Technologie, um diese Klänge möglichst genau zu steuern: dass also zwei nicht gleichzeitig ausgelöste Glockentöne gleichzeitig an jenem Hörpunkt eintreffen – denn es ging dabei eben auch um Komposition.
Den ersten Teil bildete eine von Schimke gestaltete Einleitung, die den Hörraum auf suggestive Weise öffnete. Dann folgte nach dem Dreiviertelstundenschlag, der gleichsam an den Alltag erinnerte, die Komposition von Marchenkova Frei: ein knapp fünfzehn Minuten dauerndes Stück, basierend auf einem ganz reduzierten Klangmaterial, das in 21 Variationen entwickelt wurde. Die Grundtöne g-b lieferten dabei die Hauptkirchen: die Kathedrale und die St. Laurenzenkirche. Ein tiefes e schliesslich sprach das Amen über die Komposition.
Das war mit Bedacht angelegt, momentweise entfalteten sich die Klangfelder wunderbar über die Stadt, manchmal freilich gelang die Balance nicht. Von Westen her tönte ein weiter Raum mit hintereinander gestaffelten Glockenklängen, fast unmittelbar vor der Wiese dominierte der helle und etwas penetrant eingesetzte Klang der Linsebühlkirche, so dass alle Kirchen dahinter übertönt wurden. Der Ablauf der Komposition wurde dadurch etwas verschleiert. Da gälte es wohl, weitere Erfahrungen zu sammeln, so dass das Stück für die Zuhörer verständlicher würde. Denn viele waren gekommen und wohnten dem Geläut bei. Zum Glück gab es danach noch das herrliche Zusammenschwingen aller Glocken. – Das freilich kann nur eines bedeuten: Eine Fortsetzung wäre also angesagt, um die Erfahrungen zu vertiefen und den Klang über der Stadt intensiver zu erkunden. Das St. Galler Geläut sollte eine Tradition werden.
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- Foto: Klaus Stalder
- Natalija Marchenkova Frei und Karl Schimke