Ein Netz von Bezügen
Thüring Bräm ist der Spiritus Rector der Musiktage Valendas, die er dieses Jahr zum letzten Mal leitete. Sie beeindruckten durch musikalische Vielfalt, tiefgründige Programmierung und reizvolle, oft wenig bekannte Spielorte.
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Zum nunmehr zehnten Mal fanden vom 5. bis 10. Juli die Musiktage im bündnerischen Valendas statt. Das Festival mit dem Kammerchor Altaun unter der Leitung von Thüring Bräm als festem Bestandteil fungierte diesmal gleichzeitig auch als jährliche Veranstaltung des Vereins ars braemia, der sich unter anderem der Förderung des kompositorischen Schaffens Bräms widmet. Die resultierenden Synergien liessen ein reichhaltiges Programm erwarten, und tatsächlich war die stilistische, besetzungsmässige und nicht zuletzt räumliche Bandbreite des Gebotenen beeindruckend. Das Festivalmotto «Er-Innerung» meint ein Netz von Bezügen, die historisch, räumlich, stilistisch und teilweise auch als Verweis auf die Geschichte des Festivals selbst verstanden werden können. Besondere Gewichtung erfuhr auch die Begegnung mit der Walser und der romanischen Kultur.
«Dunkel und hell» stand als Motto über dem ersten Konzert in der Kirche Versam am 5. Juli. Spätromantischer, verinnerlichter Musik in der ersten Konzerthälfte (Puccini, Elegie für Streichquartett, Pfitzner, vier Lieder op. 33, Schoeck, drei Lieder aus op. 36) standen in der zweiten Hälfte Werke von populärerer Ausdruckhaltung gegenüber: Brahms’ Vier Quartette op. 92 für gemischten Chor und Klavier, vier Lieder aus Elgars Songs from the Bavarian Highlands und Bräms 5. Streichquartett Postcards from Switzerland, welches 2007 für die Lucerne Chamber Soloists komponiert wurde und bekannte Schweizer Lieder verarbeitet. Die Ausführenden waren Lia Andres, Sopran, Peter Mächler, Bassbariton, das Streichquartett der Chamber Soloists Lucerne, Thüring Bräm, Klavier, der Kammerchor Altaun und Karel Valter, Leitung.
Eine Begegnung von Profis und Laien, von Einheimischen und Gästen ermöglichte das bereits traditionelle «Brunnenkonzert» in Valendas. Der Kammerchor Altaun war an jenem Abend auch für Zuzügerinnen und Zuzüger offen und präsentierte unter der Leitung von Thüring Bräm unter anderem Lieder auf Schweizerdeutsch, Romanisch und Englisch.
«Zurück in die Zukunft» lautete der (spätestens seit dem gleichnamigen Film wohl nur mehr wenig paradox wirkende) Titel des dritten Konzertes im Museum Ilanz, dessen inhaltlicher Bezugspunkt der Ariadne-Mythos war. Ariadne für Traversflöte und Harfe des 1981 geborenen Komponisten Thomas Leininger (Auftragswerk der ars braemia) greift auf Material eines 2015 komponierten Prologs und Epilogs zu Georg Bendas Melodram Ariadne auf Naxos zurück und gibt den Ausführenden (Karel Valter, Traverso, Julia Wacker, Harfe) ein Gerüst vor, welches im Sinne der Musikpraxis des 18. Jahrhunderts zu bearbeiten ist. The Crown of Ariadne ist eine Suite, die sechs Bilder aus dem Mythos aufgreift. Der Klang der Harfe wird in Murray Schafers Komposition aus dem Jahre 1979 um kleine Schlagzeuge und Elektronik ab Band erweitert (Julia Wacker, Harfe).
Ganz verschiedene Klangräume eröffnete das vierte Konzert «Spazi – Räume» in der eindrücklichen, von Peter Zumthor entworfenen Kapelle Sumvitg (Capluta Sogn Benedetg). Gleichsam eine Klammer um das Programm bildete Haydns Streichquartett f-Moll op. 20/5, dessen erster und zweiter Satz am Anfang erklangen, während das Adagio und die Schlussfuge das Ende des Konzerts bildeten. Den programmatischen Zwischenraum belebte Bräms eindringliches Er-Innerung für Violoncello solo aus dem 1. Streichquartett von 1991 (Jürg Eichenberger, Violoncello) sowie sein neu entstandenes 6. Streichquartett Spazi, welches den Kirchenraum und zwei weitere Räume der Region musikalisch zu deuten und so gleichsam eine ältere in eine neue Welt zu überführen sucht. Das Streichquartett der Lucerne Soloists agierte hier als überzeugender Vermittler, während dem Kammerchor Altaun unter der Leitung von Bräm eine berührende Wiedergabe von drei Gesängen aus den Prophetiae Sibyllarum von Orlando di Lasso gelang – Gesänge, die von Erlösung künden und damit einen weiteren, spirituellen «Raum» eröffneten.
In der Kirche Tschiertschen fand das als «Walser Abend» betitelte fünfte Konzert statt. Die Walser Dichterin Anna Maria Bacher, die in Pomatt in der Nähe von Domodossola lebt, trug eigene Texte in Pomattdeutsch und Italienisch vor. Es vereinen sich in ihnen Introspektion, Naturbeobachtung und spirituelle Erfahrung zu einer Lyrik von ausserordentlicher Eindringlichkeit. Einige von Bräms Vertonungen von Bachers Texten präsentierte der Kammerchor Altaun unter der Leitung des Komponisten (als Uraufführung Gibätt mit Jürg Eichenberger, Violoncello, sowie 3 Lieder aus Bräms Piccoli Madrigali). Die schnörkellose Sprache der Texte findet in diesen Vertonungen eine Entsprechung in klanglicher Transparenz und einer vermittelnden, nicht auf Komplexität gerichteten Musiksprache. Eine Besonderheit der Kirche Tschiertschen ist ihre historische Orgel, eine der letzten beiden spielbaren Hausorgeln von Heinrich Ammann aus dem Jahre 1820. Hanspeter Aeschlimann spielte darauf Märsche und Tänze aus einer Sammlung von 1796, wie sie damals auf diesem Instrument gespielt worden sein dürften und, sozusagen als tiefernstes Gegenstück, vier von Brahms’ späten Choralvorspielen (op. post. 122), wobei Aeschlimanns meisterhafte Wiedergabe ein Höhepunkt des Abends war. Ergänzt wurde diese spirituelle Musik durch drei Lieder aus Brahms’ op. 22, Mariengesänge des jungen protestantischen Komponisten.
Das letzte Programm (mit Vorkonzert) stellte «Neu und alt» einander gegenüber, zunächst räumlich; so fand das Vorkonzert bei der Skulptur OGNA von Matias Spescha (1925–2008) statt, das eigentliche Konzert dann im Weiler Acladira in der Kirche Nossadunna della Glisch aus dem 17. Jahrhundert. War das vorangegangene Konzert der Walser Sphäre gewidmet, so kam hier die romanische Kultur zum Zug, repräsentiert durch Chorwerke der beiden Surselver Komponisten Carli Scherrer und Gion Balzer Casanova (beide 1938 geboren), in denen die überkommene musikalische und religiöse Tradition fortlebt (Kammerchor Altaun). Bewusster programmatischer und stilistischer Gegensatz dazu waren Bräms Ogna für vier Hörner (Hornquartett Jakob Hefti) sowie Mountain call für Horn solo (Martin Roos) während die vom Hornquartett vorgetragenen Volkslieder als Spiegelung der Vokalsätze im Instrumentalen fungierten. Werke von Liszt, Derungs und Bruckner rundeten das Programm ab.
Insgesamt boten die Musiktage Valendas eine musikalische und räumliche Vielfalt und Hintergründigkeit der Programmierung, die ihresgleichen sucht. Sie boten nicht zuletzt auch die willkommene Gelegenheit, einen Ausschnitt aus Bräms Œuvre im Konzert zu erleben. Für Thüring Bräm bedeutete die diesjährige Ausgabe auch einen Abschied: Mit dem Abschluss des Festivals übergab er die musikalische Leitung an den mit den Musiktagen bestens vertrauten Dirigenten und Flötisten Karel Valter. Man darf auf die weitere Entwicklung des Festivals gespannt sein.
Die nächsten Musiktage Valendas sind vom 4. bis 9. Juli 2017 vorgesehen. Informationen gibt es ab diesem Herbst unter
Der Schreibende besuchte die Konzerte vom 8. und 9. Juli.