Viele Schwellen überschritten
Daniel Ott und Manos Tsangaris führten das Festival mit Schwung in eine neue Ära. In Symposium und Aufführungen setzten sie einige Schweizer Akzente und prägten mit «OmU» einen neuen Begriff für Musiktheater.
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Eine Fussgängerzone in der Münchner Innenstadt. Zwei Passanten beugen sich aufmerksam über einen Mülleimer. Gibt es etwas zu beobachten, etwas zu hören oder riechen? Weitere gehen achtlos daran vorbei, andere kommen hinzu, während die ersten sich entfernen, ohne Worte zu wechseln.
Die Videodokumentation als integraler Teil des Stücks Staring at the Bin («Einen Mülleimer anstarren», Komposition und Konzept Meriel Price) steht symptomatisch für einen Musiktheaterbegriff, der die Münchener Biennale (28. Mai bis 9. Juni 2016) unter der neuen Intendanz des Komponistenduos Daniel Ott und Manos Tsangaris prägt. Denn das Einbinden von Stadt und Alltag sowie die Öffnung zu Interaktion, fremdartigen Begebenheiten und veränderter Klangwahrnehmung stehen im Fokus des Interesses. Mit klanglich performativen Interventionen im Stadtraum, der zeitlichen Bündelung des Festivals und einer Verdoppelung der Uraufführungen auf nunmehr 15 in 13 Tagen sollten nach den Worten der beiden künstlerischen Leiter «Schwellenüberschreiter» angelockt und die Biennale geöffnet werden. Unter Einbezug von einzelnen neuen Spielorten abseits der grossen Häuser wich das Intendantenteam ganz bewusst von den Programmen ihrer Vorgänger Hans-Werner Henze und Peter Ruzicka ab.
Ott und Tsangaris scheinen sich ideal zu ergänzen, bringt doch der in seiner Wahlheimat Berlin verankerte Schweizer Daniel Ott langjährige Erfahrung als Leiter des Festivals für Neue Musik Rümlingen mit, das auf musikalische Zwiesprache mit der Umgebung spezialisiert ist (siehe Interview in der Schweizer Musikzeitung 6/2016, S. 6 ff.). Der in Dresden lehrende Tsangaris widmet sich dagegen seit seinen ersten Musiktheaterminiaturen in den Siebzigerjahren mit radikalen Statements den Weltbezügen, neuen Parametern von theatralen Aktionen, der Suche nach Klängen und der Begegnung mit dem Publikum.
Der radikale Bruch mit der Münchner Tradition überrascht dennoch und zeugt von echter Leidenschaft für die Sache. Die Wahl des Biennaletitels OmU – Original mit Untertiteln, im Kino der entscheidende Hinweis für eine unverfälschte Vorführung, lehnt sich dabei bewusst an filmische Verfahren an. Er evoziert zahlreiche Möglichkeiten, wie eine Vorlage mit ihrer Über- oder Umsetzung, aber auch Fragmentierung, Verfremdung oder Dokumentation zusammenhängen kann. Gleichzeitig spielt er auf die Variante «OmÜ» – Original mit Übertitelung – der gängigen Praxis in der Oper an.
Symposium mit Schweizer Akzenten
Was bedeutet der Begriff «Original» und wie sehen neue Formate und Strategien im heutigen Musiktheater aus? Ist der Begriff «Musiktheater» überhaupt noch zeitgemäss und in welcher Beziehung könnte dieses Musiktheater zu andern Feldern der Gegenwartskunst stehen?
Im Blick auf Produktionen der Biennale, aber auch anhand von grundsätzlichen und weiterführenden Überlegungen lud ein von Jörn Peter Hiekel (Dresden/Zürich) und David Roesner (München) konzipiertes dichtes Symposium unter dem Titel OmU – Echoräume und Suchbewegungen im heutigen Musiktheater zum Diskurs ein. Dass die Schweiz offenbar ein fruchtbarer Nährboden für den musiktheatralen Umgang mit Vorlagen verschiedenster Art ist, zeigte sich gerade bei diesem Anlass.
Spielerisch stimmten hier die beiden künstlerischen Leiter auf das Thema Original, Autorschaft oder auch Hierarchien ein, um sich anschliessend gegenseitig untertitelnd und ermunternd, in fliessendem Übergang zwischen Wort und Klang, mit «red ruhig weiter» resp. «spiel ruhig weiter» an Instrumenten zu schaffen zu machen – Ott am mit Blindnieten präparierten Klavier und Tsangaris an Waldteufel und Flummiball.
Roman Brotbeck (Bern/Basel) zeigte einen Umgang mit dem Original an Vertonungen von Texten Robert Walsers auf. Erst in den letzten zwanzig Jahren wurde Walser, besonderes im Théâtre musical, oftmals vertont, was Brotbeck mit dem Interesse an biografischen Topoi begründete. Die aufgezeigte Verwandtschaft der Machart von Walsers Texten mit Verfahren des Théâtre musical exemplifizierte er an Arbeiten von Mischa Käser, Georges Aperghis, Helmut Oehring, Johannes Harneit, Ruedi Häusermann und Heinz Holliger.
David Roesner (München) stellte Christoph Marthalers The Unanswered Question (Basel 1997) als Schlüsselwerk für den Umgang mit Vorlagen vor. Es verwendet Charles Ivesʼ epochales, gleichnamiges Stück (1908), das Grundfragen der Musik thematisiert. Ruedi Häusermanns Musiktheater Vielzahl Leiser Pfiffe (Zürich 2011), das nach einem musikalisierten Gang durch die Werkstätten des Zürcher Schiffbaus zu einem inszenierten Konzert in der Box führte, wurde von Leo Dick (Bern) als «komponierte Erinnerungsarbeit» gelesen (s. Dicks gleichnamigen Beitrag in: Übergänge: Neues Musiktheater – Stimmkunst – Inszenierte Musik, Stuttgarter Musikwissenschaftliche Schriften 4, hg. von Andreas Meyer und Christina Richter-Ibáñez, Mainz 2016).
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- Foto: Münchener Biennale, Franz Kimmel
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