Aus spektakulärer Langeweile

Unter der Leitung von Reto Bieri widmete sich das diesjährige Davos-Festival – young artists in concert dem Phänomen des Kreisens von Kreisverkehr bis Kreisleriana. Vom 31. Juli bis 15. August spielten 70 Musikstudentinnen und -studenten aus 20 Ländern 45 Konzerte und nahmen sich Zeit, Neues entstehen zu lassen.

Zwischenhalt. Foto: Yannick Andrea

Die Hip-Hop-Tanzgruppe der evangelischen Gemeinde Davos hat sich draussen neben der Blaskapelle aufgestellt. Der gemischte Chor ist hinter einem Klaviertrio in der Bar des Hotels Schweizerhof postiert. Punkt 17 Uhr fangen alle gleichzeitig an zu singen und zu spielen. Die Hip-Hopperinnen-Tänzerinnen haben zwar ihren Gettoblaster mit der passenden Musik dabei, werden aber auch von den Märschen der Davoser Musikgesellschaft begleitet. Brahms‘ erstes Klaviertrio trifft auf Volkslieder in Schweizer Mundart. Das Mozart-Divertimento des Streichorchesters im Foyer wird von einer etwas penetranten Ratsche kommentiert. Jeder und jede ist mit Ernst und vollem Engagement bei der Sache. Die Zuhörer bewegen sich frei zwischen den Ensembles und Solomusikern – über Treppen und Flure. Draussen gibt es Bratwurst. John Cages Musicircus beim Eröffnungswochenende des 30. Davos-Festivals ist ein kleines Happening. Gängige Konzertmuster werden aufgebrochen. Die Grenze zwischen musikalischen Stilen ist getilgt. Das ist dem Intendanten Reto Bieri sehr wichtig. «Diese Performance ist für mich auch eine interessante soziale Studie. Die Musikgruppen sind ganz frei in der Gestaltung. Es ist schon spannend zu beobachten, wer sich eher zurücknimmt oder wer einfach nur lauter spielt, um gehört zu werden.»

Die sieben Bläser der österreichischen Formation Federspiel vagabundieren zwischen den einzelnen Ensembles und setzen auf ein Miteinander. «Let’s improvise», fordert der Trompeter Simon Zöchbauer das Holzbläsertrio des spanischen Azahar-Ensembles auf. Kurz werden Tonart und Tempo geklärt. Und das Rondino-Finale von Erwin Schulhoffs Divertissement erklingt in einer ganz neuen Fassung – mit Trompetenrepetitionen und einem Orgelpunkt in der Posaune. Hier passiert im Kleinen, was auch im Grossen stattfindet. Junge hochbegabte Musikerinnen und Musiker lernen sich kennen und entwickeln gemeinsam Neues. Rund 70 Musikstudenten aus 20 europäischen Ländern sind über die gesamte Festivallänge von zwei Wochen vor Ort. «Hier in Davos muss etwas Besonderes entstehen. Dafür brauchen wir Zeit. Und Langeweile. Eine spektakuläre Langeweile», bemerkt der Intendant im Pressegespräch.

Das Motto vom Kreisen

Neben den 45 Kammermusik-Konzerten an zwölf verschiedenen Orten, darunter auch dem Bahnhof und der Stafelalp, entstehen auch spontane Sessions in der Hotellobby, wenn etwa ein paar Streicher Jazz spielen oder die Mitglieder des Kammerchors, der jeden Morgen um 10 Uhr zum «Singen für alle» einlädt, die Hotelgäste um Mitternacht mit kunstvoll gesetzten Volksliedern begeistern. Das für 2015 leicht erhöhte Gesamtbudget beträgt rund 630 000 Schweizer Franken. Der Anteil der Sponsoren ist mit 65 Prozent überdurchschnittlich hoch. 24 % des Etats wird durch die Eintrittspreise finanziert, die Subventionen belaufen sich auf 11%. In Davos wird alles selbst und exklusiv produziert – ein wichtiges Alleinstellungsmerkmal im austauschbaren Festivalbetrieb. Der Neue-Musik-Anteil ist hoch. Auch Bieris Vorgängerin Graziella Contratto, die das Kammermusikfestival von 2007 bis 2013 leitete, hatte schon frischen Wind nach Davos gebracht, hatte junge Spezialisten für Alte Musik zum Festival geholt und das Repertoire für Jazz geöffnet. Tanzkurse in einer Schreinerei, Hotelkonzerte, Dirigieren für Kinder, Wanderkonzerte und das Liegekonzert auf der Schatzalp gehörten zu ihren Neuerungen.

Bieri möchte das Festival mitten im Leben verankern und auch Publikumsschichten gewinnen, die im bekannten Luftkurort bisher nicht den Weg zu den Konzerten fanden. Deshalb sind bei John Cage auch das Jodelchörli Parsenn und die Alphorners Davos-Klosters dabei. Deshalb gibt es einen Hörgang durch den Wald für Kinder und junge Reporter, die über das Festival berichten. Das Konzertmotto «Kreisverkehr» ist bewusst dem Alltag entnommen. Verkehrskreisel prägen viele Schweizer Orte. Davos hat nicht mal ein Lichtsignal. Im gesamten Festivalprogramm geht es um Wiederholungen und Zyklen, Abzweigungen und auch mal die eine oder andere Sackgasse, die künstlerisch nicht weiterführt.

Publikum aus der Umgebung

«RoundAbout» heisst das Eröffnungskonzert im eher tristen, mit Teppichboden ausgelegten Saal des Hotels Schweizerhof. Martin Meuli, Chefarzt am Kinderspital Zürich, hält einen erfrischenden Vortrag über Zellteilungen und Stoffwechselzyklen. Und auch musikalisch kommt man den Kreisen auf die Spur. Joe Zawinuls The Harvest endet, wie es begonnen hat – mit tongebundenen Rhythmen, die die Musiker von Federspiel auf die Mundstücke ihrer Instrumente trommeln. Auch Schuberts Andante aus dem Streichquartett Der Tod und das Mädchen, dem aber die jungen Musiker des Cuarteto Gerhard nicht ganz gewachsen sind, ist mit seinen Variationen zyklisch angelegt. Die Speichenmusik des Basler Künstlers und Instrumentenerfinders Lukas Rohner auf einem umgebauten Fahrrad ist zwar originell, führt aber nicht zu einer klaren künstlerischen Aussage.

Composer in Residence ist der Franzose Marc-André Dalbavie. Von ihm erklingt das rhythmisch prägnante, durchaus melodiös-tonale Klaviertrio Nr. 1 in bestechender Interpretation von Gilles Grimaitre (Klavier), Jonian Ilias Kadesha (Violine) und Vasthi Hunter (Violoncello). In der Pause steht man auf dem Hinterhof des Hotels im Dunkeln, wenn man sein Glas Sekt trinken möchte. Der Glamourfaktor tendiert gegen Null. Wie viele andere Hotels hat auch der Schweizerhof im Sommer geschlossen.

Es ist stark wetterabhängig, wie gut die Sommerbilanz ausfällt. In diesem Jahr gibt es durch den hohen Frankenkurs 16 Prozent weniger Übernachtungen von Deutschen. «Das konnten wir aber durch Gäste von anderen Ländern wie Polen, Ungarn und Skandinavien wieder auffangen», sagt Paul Petzold, Tourismuschef von Davos-Klosters. Von speziellen Rabatten gegenüber den Deutschen, wie sie manche Schweizer Ferienorte anbieten, hält er gar nichts. «Ein Riesenfehler! Wie können wir so etwas gegenüber unseren anderen Gästen verantworten.» Zudem gehöre Davos zu den Top-Adressen, wo die Besucher weniger preissensibel seien. Das Davos-Festival habe hier kaum Auswirkung auf die Übernachtungszahlen. Ein echtes Festivalpublikum, das wegen der Konzerte anreise, gäbe es nicht. Die meisten Konzertbesucher sind Davoser oder Zürcher, die im 1560 Meter hoch gelegenen Luftkurort ihren Zweitwohnsitz haben. Oder eben Feriengäste, die ohnehin schon in Graubünden sind. Diese kommen auch trotz Regen zum Open-Air-Konzert im Kurpark, wo die gut gelaunten, hochmusikalischen Federspiel-Bläser den Spagat zwischen Jodeln und Jazz schaffen und auch mal wie ein mexikanisches Mariachi-Ensemble klingen können. Rund 200 Gäste stehen mit ihren Schirmen zwischen den nassen Bierbänken und hören konzentriert zu, was die sympathischen Jungs aus dem Nachbarland so alles miteinander kombinieren können.

Lernen von den Erfahrenen

«Young Artists in Concert» lautet der Untertitel des 1986 von Michael Haefliger gegründeten Kammermusikfestivals. Zu entdecken gibt es viele Talente wie das formidable Dudok Kwartet aus Amsterdam, das Brahms‘ zweites Streichquartett in der Alexander-Kapelle wunderbar transparent und homogen zum Klingen bringt. «Wir haben aber auch einige erfahrenere Musiker wie die Mitglieder des Amaryllis-Quartetts hier, die als Lehrer fungieren und in der Davos Festival Camerata an den ersten Pulten sitzen. Dieser Austausch ist mir wichtig», sagt der Reto Bieri. Ein Handy hat der unkonventionelle, 40-jährige Schweizer nicht. Das lenke nur ab. Ausserdem seien ohne Handy die Absprachen von einer hohen Verbindlichkeit. Zu finden ist er trotzdem. «Ich kreise während der Festivalzeit sowieso immer hier herum.» Beim Kreisleriana-Konzert treffen Werke der entfernt miteinander verwandten Fritz und Georg Kreisler aufeinander. Schumanns Kreisleriana darf in der etwas farbarmen Interpretation von Oliwia Grabowska nicht fehlen. Das Amaryllis-Quartett raut Beethovens Streichquartett op. 59/3 auf. Und legt einen hochdramatischen Finish hin, der das mit jungen Festivalmusikern durchsetzte ältere Publikum zum Kreischen bringt.

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