Das Leben auf der anderen Seite
Das Brandenburgische Staatsorchester brachte die Neufassung von Alfred Felders «Delaram» für Bariton und Orchester zur Uraufführung. Ein Werk, das auf Verinnerlichung zielt.
Der Titel Delaram ist persisch und setzt sich aus «del» für Herz und «aram» für Ruhe zusammen. Alfred Felder (*1950 in Luzern) hat sich wiederholt mit Texten des persisch-islamischen Mystikers Jelaluddin Rumi beschäftigt – vom Oratorium âtesh, dem Violinkonzert open secret bis zum Werk für Bariton, Chor und Orchester Khamush, das 2012 in der Tonhalle Zürich zur Uraufführung kam. Um eine Neufassung, die das Werk vom Oratorischen ins Sinfonische überführt, handelt es sich bei Delaram, das im Auftrag des Brandenburgischen Staatsorchesters Frankfurt entstand. Auf den Chor verzichtet das neue Werk, geblieben ist der Text, seine Vertonung und Vergegenwärtigung durch die Solostimme und die Intention des Ganzen als eines Requiems ohne Dies irae und ohne den Tod als Schreckensvision.
Das Wort «Vergegenwärtigung» ist mit Bedacht gewählt und problematisch zugleich. «Schau mich an! Ich bin dein Gefährte im Grab!» So beginnt – in der Übersetzung des Komponisten – Rumis Ghasel 491. Die Baritonstimme lässt den Anruf des Gottes klangvoll ertönen und sein Gruss «salam» wird vom Orchester volltönig strahlend unterstrichen. Robert Koller, der Bariton der Uraufführung am Freitag, 13. Februar 2015, füllt mit seiner markig warmen Stimme diesen grossen Gestus bewundernswert aus. Und wenn der Solist gar den «Liebesrausch» im Grab beschwört und die Musik rauschhaft zu kreisen beginnt, scheint er als Figur auf dem Podium von einer fast opernhaften Lebendigkeit.
Fast: denn eigentlich ist alles ganz anders. Nicht erst mit der Mahnung «Such mich nicht in menschlicher Gestalt!» besitzt Felders Musik bei aller Farbigkeit, allen heftigen Ausbrüchen und ihrer rhythmischen Energie ein eigenes spezifische Gewicht: Entmaterialisiert, mystisch klingt diese Stimme. Obwohl sehr präsent und umgeben vom sinnlichem Orchesterklang, ist es – wie schafft der Komponist das bloss? – eine Stimme von der anderen Seite. Dazu hat Koller die weit gespannten, berührenden stimmlichen Möglichkeiten: die ruhig gehaltenen tiefen, geheimnisvollen Töne, das ätherische Falsett zu «Oh seltsame Nacht!».
Aber auch das instrumentale Geschehen ist von einem «Wissen» durchdrungen, das im blossen Text nur Behauptung wäre. Was wäre der Vers «Nie warst du getrennt von mir!» ohne das Fagott-Solo? Die orchestralen Mittel, die Felder zur Verfügung stehen, sind denkbar vielfältig. Lyrisch monologisierende Soli und sphärische Klänge gehören dazu ebenso wie mächtige Klangballungen, komplexe Rhythmik ebenso wie Passagen des sich auflösenden Zusammenhalts. Für das «ruhige Herz», das sich am Ende als Quintessenz aus dem im Ghasel verhandelten Erlebnis einstellt, war der Dirigent Zsolt Hamar mit seiner ruhigen Kompetenz, der klaren, die Musiker gewissermassen einladenden Gestik offensichtlich der richtige Mann.
Dass das Brandenburgische Staatsorchester ein Klangkörper von eigenständiger Ausdruckskraft ist, zeigte sich auch in den beiden Werken, die die Uraufführung einrahmten. Das Programm stand unter dem Motto «Musik und Transzendenz». Die Sinfonia sacra des polnischen Komponisten Andrzej Panufnik (1914–1991) zu Beginn des Konzerts passte selbstredend zu diesem Thema, aber auch das Werk des Russen Alexander Skrjabin. Dessen 2. Sinfonie stand schon in Bezug zu seiner Idee eines kunstreligiösen Gesamtkunstwerks, eines «Mysteriums», das in sieben aufeinanderfolgenden Tagen im Himalaya aufgeführt werden sollte und dem er zutraute, dass es die Menschheit verwandeln würde. Spannende Bezüge und Kontraste ergaben sich damit aber nicht nur thematisch, sondern auch in den rein musikalischen Sachverhalten, und dem klugen Konzept folgte die Realisation, die unter Hamars energievoller und auch enthusiastischer Leitung mit dem Finale der Skrjabin-Sinfonie bildlich gesprochen in den Himalaya führte.
Mehr von Herbert Büttiker zu Felders Werken auf: www.roccosound.ch