Naturhorn zwischen Plattenbauten

Das Motto des Herbstfestivals für Neue Musik und interdisziplinäre Kunstaktionen in Berlin-Marzahn lautete «Durst».

Das Hochhaus beherbergt das Ausstellungszentrum Pyramide. Foto: Andreas Steinhoff

Das Tram ist voll besetzt bei der Sonderfahrt zur Pyramidale. Das Festival für Neue Musik und interdisziplinäre Kunstaktionen findet seit 2001 im Berliner Stadtbezirk Marzahn-Hellersdorf statt, in der mit rund einer Viertelmillion Einwohnern grössten Plattenbausiedlung Europas.

Mit von der Partie ist hier ein Aerofon: Ein Gewirr aus Schläuchen durchzieht den Wagen, ein Generator pumpt Luft durch Orgelpfeifen. Es brummt und fiept und haucht im Duett mit dem Strassenbahnklang. Dazu improvisiert die Violinistin Biliana Voutchkova, imitiert das Quietschen, setzt staccato-artige Akzente. Der Experimentalmusiker Thomas Noll im weissen Arbeitsoverall zieht die Register seines Instruments, spielt auf einzelnen Orgelpfeifen und setzt auch bunte kleine Plastikspielzeuge zur kontrastierenden Klangerzeugung ein. Die Musiker bewegen sich durch den Wagen, verändern so den Klangraum. Und auch draussen verändert sich alles: Von der Mitte Berlins über den Alexanderplatz fährt das Tram eine Stunde lang immer weiter hinaus durch Industriegebiete bis mitten hinein in die Plattenbauten Marzahns. Aus dieser Tramophonie steigt das Publikum und ist in einer anderen Welt angekommen.

Überfliessende Möglichkeiten
Bei der 13. Pyramidale war wie schon 2010 die Schweiz mit einigen Interpretinnen und Interpreten sowie Komponisten zu Gast, und als Hauptthema stand über allem: Durst. Am ersten Abend gelangte das durstthema mit variationen mit Texten der Thüringer Autorin Kathrin Schmidt zur Uraufführung. völkisch lampedusisch fügsam ländlich greinend dunkel impulsiv, so waren die sieben Teile überschrieben, die von sieben Komponisten in Kammerbesetzung vertont wurden. Besonders ragte das Stück Stundlos von Katia Guedes heraus, ein Duett für Saxofon (Meriel Price) und Sopran (Franziska Welti). «Als ich dich lieben wollte», heisst es da im Text, und das Hauchen des Saxofons verschmilzt mit dem Hauchen der Stimme wie in einer Umarmung. Die Klappen des Saxofons nehmen den Sprachrhythmus auf, Instrumenten- und Stimmklang schmiegen sich umeinander und durchdringen sich, so dass ein geradezu erotisches Stück Musik entsteht.

Präsentiert werden die sieben Stücke in einer minimalistischen Inszenierung. Der Regisseur Holger Müller-Brandes beschränkt sich darauf, im kargen Glasraum des Ausstellungszentrums Pyramide verschiedene Spielorte für die einzelnen Teile einzurichten und damit den räumlichen Eindruck zu verändern. Franziska Welti und der Sprecher Christian Bormann tauschen spannungsreiche Blicke aus, stossen mit Wein an, am Ende zerbricht ein Glas. Seltsamerweise wirken diese Spielszenen trotz der Kürze etwas aufgesetzt und bemüht. Da wäre das Vertrauen auf Text, Musik, Raum, Stimmung und Stimme doch mehr gewesen.

Auch nach der Pause wird noch ein umfangreiches Programm geboten, bei dem sich die Musiker des Ensembles JungeMusik Berlin auch solistisch beweisen können. In Interludium von Sarah Nemtsov für Oboe und Elektronik, in dem die elektronisch vervielfältigten Oboenstimmen geisterhaft durch den Raum schweben, stellt die Oboistin Antje Thierbach ihr Können vor. In Albedo von Helmut Zapf aus dem Jahr 2001 glänzt Martin Glück an den Flöten. Der Einsatz der Elektronik wirkt in diesem Stück jedoch leider etwas plump und zu laut.

Die Uraufführung Irrwege von Johannes K. Hildebrandt lässt an das nervöse Eilen durch ein Labyrinth denken. Albtraumhaft, flatterhaft, zitternd, wechseln sich hektische Impulse mit gespannten Pausen und nervösen Läufen ab, um am Ende langsamer zu werden, wie der erschöpfte Herzschlag eines ewig Verirrten, wie ein Aufgeben, Ausatmen.

Einen beeindruckenden Abschluss bildet das Stück Aus der Wand die Rinne von Juliane Klein. Violoncello, Oboe, Klarinette, Saxofon und Flöte sind einzeln im Raum verteilt und spielen parallel mehrere Solostücke. Jeder Solist spielt im jeweils eigenen Tempo. Der Klang der verschiedenen Instrumente, mischt sich gut in dem kargen Glasraum. Am Ende bleibt allein das Cello (Vladimir Reshetko) übrig. Die freie Zusammensetzung des Stückes ermöglicht, dass das Spiel an einem anderen Tag ganz anders klingen, ganz anders ausgehen könnte. Das Wissen darum legt sich über das Gehörte wie eine leicht verschobene Möglichkeits-Schicht.

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